Wo Henri saß...
„Das ist der beste Wagen, den ich jemals gefahren bin“, frohlockte Henri Toivonen in einem Fernsehinterview vor dem Start zur 1000-Seen-Rallye 1984 in seiner Heimat Finnland. Das folgende Filmmaterial zeigt in grobkörnigen und farblich übersättigten Bildern, wie der große Finne genau diesen hier vorgestellten Lancia um Spitzkehren wuchtet und über unzählige Kuppen fliegen lässt. Sein wilder Ritt auf Platz drei im Gesamtklassement ist ein fesselndes Erinnerungsstück an die magische Ära der Gruppe B-Rallyemonster.
Statt 1000 Seen 1000 staugeplagte Pendler
Mit im Vergleich deutlich gezügeltem Tempo rollen wir aus Girardo & Co’s Showroom im Londoner Südwesten und beginnen unsere Reise ins Zentrum. Vor Abfahrt wurde uns glaubhaft versichert, dass sich der Vollblutrallyewagen auch im normalen Straßenverehr ausreichend zivil bewegen lasse. So sollten wir keine Probleme haben, all das zu tun, was man gewöhnlich an einem Tag in der City so alles unternimmt: Die Geschäfte in Chelsea abgrasen, zum Lunch in Mayfair einkehren, dann ein bisschen Sightseeing auf der Mall und mit einem der besten Martinis der Stadt im Dukes Hotel den Tag ausklingen lassen. So malen wir es uns jedenfalls aus - schließlich handelt es sich hier um einen italienischen Rallyewagen aus den 80er-Jahren, gebaut dafür, Schotterpisten aufzufressen anstatt sich durch den Londoner Verkehrsdschungel zu quälen.....
Fremdkörper im Verkehr
Die Reaktionen der Passanten auf das Auto zu beobachten, macht uns besonderen Spaß. Einige lassen alles fallen und greifen instinktiv zur Smartphone-Kamera, andere starren mit offenem Mund, offensichtlich unfähig zu erfassen, wie ein solch lauter, weißer und mit Aufklebern voll gepappter alter Wagen in ein modernes urbanes Umfeld geraten und ihre Komfortzone stören konnte. Er mag zwar (italienische) Kennzeichen tragen, doch wirkt er als absoluter Fremdkörper im Alltagsverkehr. Für einen Moment avancieren wir sogar zur Attraktion einer Londoner Sightseeing-Tour. Sehr zum Ärger des Reiseführers, der die Aufmerksamkeit der Touristen zurückgewinnen will.
Aufs Ganze gehen
Sie wundern sich wahrscheinlich spätestens jetzt, warum wir uns ausgerechnet dieses Auto für unsere Neujahrsfeier in London ausgesucht haben. Abgesehen von der Martini Connection ist die Antwort simpel: Autofahren in London ist eine lästige Pflichtübung. Daher stellte sich die Frage: Warum nicht mit Hilfe eines völlig ungeeigneten Gefährts wie einem ultraflachen Rallyewagen oder einem riesigen Chelsea Tractor (englische Verballhornung für die Gattung XL-SUV) das Fahren im Dauerstau zum Event an sich zu erhöhen? Sprich: Aufs Ganze zu gehen? Die rudimentäre Glasfaser-Karosserie mag schon leicht vergammelt, die Spaltmaße lachhaft und die Sicht nach hinten gleich Null sein – doch macht das den speziellen Charme des Lancia aus. Zudem kontrastiert seine Patina wunderbar mit den Luxusfassaden von Chelsea und Mayfair. Schnell kommt da das Gefühl auf, ein Rebell zu sein...
Lancia-Shopping macht durstig
Nach einer schweißtreibenden Shoppingtour – lediglich eine kleine Klappe im Dach lässt Frischluft ins Innere des 037 – wie konnten es Toivonen und Co Piironen nur in der brüllenden Hitze der Akropolis Rallye aushalten? – beenden wir den Tag im Dukes Hotel am St. James Place. Weil dort nach allgemeiner Auffassung einer der besten, wenn nicht sogar DER beste Martini Londons angerührt wird.
„Gedriftet, nicht gerührt“
Das Gerücht sagt, Duke-Stammgast Ian Fleming sei die Idee zu James Bonds legendärer Order für einen trockenen Wodka-Martini („geschüttelt, nicht gerührt“) in der 100 Jahre alten und im Stil eines hochherrschaftlichen Salons gestalteten Hotelbar gekommen. Unabhängig davon fragten wir uns, was 007 wohl mit dem draußen vor dem Eingang geparkten Lancia angestellt hätte?
Zeit für einen Martini
Wenn Sie einen Drink schätzen, der sogar noch den Durchzug des ungestümen Abarth Motors übertrifft, gleichwohl mit der Finesse eines am absoluten Grenzbereich balancierenden Henri Toivonen gemixt ist, müssen Sie einfach Dukes Martini probieren. Der ideale Absacker, um Schlückchen für Schlückchen ein weiteres Jahr Revue passieren zu lassen. Es war ein in vielerlei Hinsicht hartes – der Blick auf die Titelseiten der Zeitungen erinnert uns fast täglich daran. Doch ist das noch mehr ein Grund dafür, die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen und nach vorne zu schauen. Daher wird Sie Classic Driver auch weiterhin mit beschwingten und zu Tagträumen anregenden Geschichten versorgen – egal, was uns die Welt alles noch vor die Füße werfen mag. Ein glückliches Neues Jahr!
Fotos: Tom Shaxson für Classic Driver © 2016