Vor ein paar Wochen befand ich mich auf einem Parkplatz mitten im Hyde Park und lauschte (ich hielt nicht Ausschau) nach einem ganz besonderen Auto. Im üblichen, von Hybriden angetriebenen Grau-in-Grau des Londoner Verkehrs wusste ich, dass das Brüllen eines italienischen V12 wie ein Crescendo herausknallen würde oder, wie in diesem Fall, der einzige jemals gebaute Lamborghini Countach 25th Anniversary in der farblichen Extravaganz Arancio Miura. Die Scherentüren des Countach heben sich und heraus klettert der Mann, mit dem ich verabredet bin: Mario Escudero. Er trägt eine großformatige, durchaus angemessene italienische Sonnenbrille, Fahrerhandschuhe von Café Leather in orange, eine Swatch im Farbton seines Autos und ein breites Lächeln. Wie kann man auch nicht über das gesamte Gesicht grinsen, wenn man dieses unfassbare Exemplar fahren darf?
Wir fahren entlang des Hyde Park-Sees Serpentine in Richtung der ersten Location für dieses eintägige Fotoshooting, während mir Mario erzählt, woher seine Leidenschaft für Autos stammt: „Ich wuchs in Peru auf, wo die häufigsten Autos VW Käfer und Toyota Corona aus heimischer Produktion waren. Es war ein Meer der Gleichartigkeit. Aber als ich etwa fünf oder sechs Jahre alt war, entdeckte ich einige besondere Exemplare wie BMW 316i und Mercedes-Benz 190 E, die meine Neugier anspornten. Waren das jetzt die besten Autos, welche die Welt zu bieten hatte oder gab es tatsächlich sogar noch andere, die sie übertrafen?“
Nach seinem Studium arbeitete Mario für eine örtliche Firma, die rasch von dem amerikanischen Hygieneriesen Kimberley-Clark übernommen wurde. In der Folge verbrachte er die nächsten 23 Jahre auf Geschäftsreisen rund um den Globus. „Ich habe den Großteil meines Lebens damit verbracht, Toilettenpapier und Windeln zu verkaufen. Es ist gar nicht so einfach, Kunden davon zu überzeugen, Spitzenpreise für diese Artikel zu bezahlen“, berichtet Mario. Nach Peru arbeitete er in Venezuela, den USA und erhielt dann als nächste Station Moskau. „Das war eine heftige Erfahrung, die Tage kurz, das Wetter richtig kalt. Danach reiste ich nach Kasachstan, im Vergleich dazu fühlte sich Moskau eher fad an. Aber ich habe mich dort sehr wohl gefühlt – ich lernte tolle Menschen kenn und feierte dort meine größten geschäftlichen Erfolge.“ Auf den Stint in Kasachstan folgte Marios Beförderung zu Kimberley-Clarks Geschäftsführerposition in Italien. Damals begann er, seine ersten anspruchsvollen Autos zu kaufen.
„Mein erster Lancia war ein Delta S4 Stradale, mein erster Ferrari ein 458 Italia. Vier Jahre verbrachte ich in Italien und habe es genossen, aber im Jahr 2019 bat mich das Unternehmen, nach London zu ziehen. Und nach weiteren fünf Jahren war es an der Zeit, Kimberley-Clark zu verlassen. Ich wollte mehr Zeit mit der Familie verbringen und mich meinen Leidenschaften widmen: Photographie, Autos und Menschen dabei helfen, ihr Potenzial zu entwickeln. Ich habe jetzt ein kleines Start-up, das den Zugang zu hochwertigem Marketing durch KI demokratisieren möchte.“ Ich erfuhr, dass zu Marios Sammlung jetzt auch ein umwerfender Maserati 3500 GT, Baujahr 1961, gehört sowie ein nicht minder wunderbarer Tailor Made Ferrari FF, den er natürlich im Classic Driver Markt entdeckte. „Ich verbringe verboten viel Zeit auf Classic Driver“, gesteht Mario vergnügt.
Nachdem die erste Fotoserie „im Kasten“ war, klappte ich mich in den Countach – die extrem niedrige Dachlinie verursachte bei mir auch eine leichte Gehirnerschütterung – und fragte Mario, warum er sich gerade von diesem Modell angezogen gefühlt hatte. „Mein Exemplar ist ein Countach 25th Anniversary aus dem Jahr 1990. Es war eines der letzten, die vom Band liefen, da die Produktion im November desselben Jahres eingestellt wurde. Die meisten Menschen bewundern den Periscopio, der ein schönes Design besitzt, doch weil sich meine Kindheit und Jugend in den 1980er und 1990er Jahren abspielte, spricht mich der 25th Anniversary – breiter, leistungsstärker und aggressiver – um so stärker an. Ich bin auch überzeugt, dass es in Bezug auf Fahrdynamik und Verlässlichkeit klüger ist, den letzten einer Baureihe zu erwerben. Nach 20 Jahren sind die meisten der Problemfälle gelöst, was nicht korrigiert wurde, lässt sich auch nicht beheben – das ist dann schlicht ein Teil der DNA.“
Erstaunlicherweise hatte Mario nicht vorgehabt, einen Countach zu besitzen, aber ein geheimnisvoller Anruf von unseren Freunden bei Girardo, die ihn über einen Lamborghini in einer sehr speziellen Farbe informierten, weckte sein Interesse. „Bei Lamborghini kann das alles bedeuten, zum Beispiel toxisches Grün mit gelben Pünktchen, aber dann sah ich das Auto. Arancio Miura wurde zuletzt in den siebziger Jahren eingesetzt und besitzt diese hinreißend kremige, reichhaltige Textur. Außerdem war die Kombination mit dem hellen, karamellfarbenen Interieur einfach betörend. Das Leben ist zu kurz für ein schwarzes Interieur. Ich liebe diese Farbe. Ich konnte nach diesem ersten Kennenlernen nicht mehr einschlafen. Der Countach war beileibe nicht billig, aber ich musste ihn einfach haben. Irgendwie gelang es, dass mir die Sterne finanziell hold waren.“
Als wir kurz auf der Exhibition Road anhalten, kann ich endlich würdigen, wie atemberaubend Arancio Miura tatsächlich ist – ein sattes und reichhaltiges Orange, das in der Sonne eher wie ein Pfirsich-Beige wirkt. Doch es gibt noch andere Merkmale, die beweisen, wie einzigartig Marios Countach ist. In allen 25th Anniversary-Modellen arbeitet der 5,2-Liter-Vierventil-V12 aus dem LP5000 QV, doch jene für den US-Markt waren mit Einspritzung ausgerüstet worden und büßten dafür Leistung ein. Marios Exemplar ist ein „Downdraft“-Modell, was bedeutet, dass die Vergaser oberhalb des Motors montiert worden sind und so 455 PS zur Verfügung stehen.
Dann ist da noch das Thema Originalität. Als Mario seinen Countach kaufte, standen 7.500 Kilometer auf der Uhr und er versichert mir, dass Lackierung und Interieur original sind. Die einzige Modifikation ist ein historisch korrekter ANSA-Auspuff. Diese erstaunliche Ursprünglichkeit bescherte Mario in diesem Jahr auch die Teilnahme am Concorso d´Eleganza Villa d´Este, wo er das Classic Driver-Team kennenlernte. Das Auto befindet sich in einem ausgezeichneten Zustand, doch finden sich Spuren der 13.000 Kilometer, die er in den 18 Monaten seit er den Countach sein Eigen nennt, gefahren ist. Die sichtbarsten und auch interessantesten sind die weißen Tupfen auf der Motorhaube: Sie entstanden, als die Lösungsmittel in diesem Verbundstoff-Karosserieteil bei hohen Temperaturen Bläschen bildeten. „Zu diesem Zeitpunkt experimentierte Lamborghini mit Kevlar und niemand hatte eine Ahnung, wie es sich verhalten würde“, erklärt Mario. „Doch daran erkennt man, dass dieser Countach lebt, dass er gefahren wird.“
In diesem Zusammenhang kann man Mario nur dazu gratulieren, dass er sein Juwel so ausgiebig bewegt hat. Übrigens trägt es den liebevollen Spitznamen Mr. Orange. „Ich machte bei der Countach Tour mit und fuhr mit dem Auto von London bis zum Werk im italienischen Sant´Agata. Ich bin mit einem Freund zum nördlichsten Punkt Schottlands gefahren, ich war auch in Wales. Ich fahre damit so oft ich kann und mindestens einmal die Woche in London.“ Wenn man überlegt, wie oft er damit unterwegs ist, musste ich von Mario wissen, wie es ist, mit die Ikone unter den Poster Cars durch die britische Millionenstadt zu pilotieren. „Erstaunlich! Es ist jedes Mal eine denkwürdige Erfahrung und wie man von manchen Dingen im Leben behaupten darf, ist es sinnvoll genutzte Zeit. Auf den Fahrten durch London kann das Auto etwas tückisch sein, denn die Bedienelemente sind nicht unterstützt und bei Kälte kann der Schalthebel steif sein – bei geringem Tempo kann sich das ein wenig schwierig gestalten. Ferruccio Lamborghini baute bekanntlich zuerst Traktoren und dieses Erbe ist durchaus noch präsent. Aber es wird durch den unvergleichlichen Motorsound und den spektakulären Auftritt kompensiert. Große Oper. Wundervoll ist auch das Lächeln im Gesicht der Menschen, die dieses Auto im Vorbeifahren erleben.“
Dieser Aspekt war ebenfalls für mich enorm überraschend. Während ein moderner Lamborghini Aventador oder Revuelto nicht die Zustimmung von Londons Bewohnern erfährt, konnte ich kaum fassen, wie positiv Marios Countach aufgenommen wurde. Wann immer wir anhielten, bildeten sich fotografierende Menschenmengen und ein paar ältere Enthusiasten bedankten sich bei Mario für diese Portion Glück in Arancio Miura, die ihren Tag leuchten ließen.
Weil ich in diesem Jahr selbst ein traumatisches Erlebnis mit einem italienischen Klassiker gehabt hatte, will ich von Mario während wir zu unserem letzten Haltepunkt fahren wissen, ob sein italienischer Besitz Auffälligkeiten oder Probleme entwickelt hätte. „Er überhitzt nie und hat mich auch sonst nicht enttäuscht. 13.000 Kilometer durch Regen, Wind, Sonne, Hitze und Kälte und er lief immer wie am Schnürchen. Doch auf der Motorway erwacht der Countach zu seinem wahren Leben. Ab 100 Stundenkilometer zeigt er, wofür er entwickelt wurde, und jenseits der 150 Stundenkilometer spürt man, wie alle Elemente des Antriebsstrangs optimal zusammenspielen. Dabei fühlt er sich verblüffend stabil an. Dank des vorderen Spoilers gibt es kaum Auftrieb. Da bewährt sich dann endlich auf überzeugende Weise dieses von Horacio Pagani entworfene aerodynamische Beiwerk. Die seitlichen Lufteinlässe sowie der Auspuff oberhalb der Radiatoren sorgen für eine kontinuierliche Kühlung. Der Luftwiderstandsbeiwert wird dadurch nicht nennenswert tangiert und bei hohen Drehzahlen fängt der Motor wahrlich zu singen an. Mich erinnert das alles an einen Formel 1-Rennwagen aus den 1960ern!“
Am Steuer dieses Lamborghini Countach zu sitzen, schenkt Mario ganz offensichtlich eine tiefe Befriedigung. Aber bereitet ihm die wachsende Kilometerzahl in einem so seltenen Sportwagen nicht Sorgen? „Aus meiner Sicht sollten alle das tun, was sie glücklich macht. Für mich geht es mehr um das Fahrerlebnis, Dinge gemäß ihrer Bestimmung zu nutzen. Was den Wert betrifft, mache ich mir keine Gedanken: 20.000 Kilometer Laufleistung bei einem 34 Jahre alten Auto ist nicht viel. Sollten es mehr als 2.000 Kilometer pro Jahr werden, dann würde ich mir sorgen machen. Aber bis dahin ist es noch weit. Für manche Fahrzeuge gilt – und dieses zähle ich dazu -, dass sie mit jeder Fahrt besser werden. Der Motor dreht jetzt freier, der Verbrauch ist niedriger. Warum? Weil ich ihn benutze.“
Und das, liebe Leser, ist unsere Lektion für heute: Rein ins Auto und fahren. Wenn Mario die Laufleistung seines Countach verdreifachen kann, dann sollten auch Sie sich nicht scheuen, so oft es geht mit Ihrem Liebling Spritztouren zu unternehmen. Ihr Klassiker wird es Ihnen danken!
Fotos von Mikey Snelgar