Während die Autoindustrie und ihr Umfeld sich mit einer Geschwindigkeit veränderten, die schon an die Beschleunigung einer Rakete zum Mond erinnerte, und mit zunehmend wilderen Schöpfungen auf sich aufmerksam machten, brauchte es in dieser aufgeheizten Atmosphäre einen selbstbewussten und besonnen Designer, der sich in Zurückhaltung übte und einen Schritt zurück zum Anfang der siebziger Jahre wagte.
Genau das gelang Paulo Martin von Pininfarina, als er zum zweiten Mal die Karosserie eines offenen Show Cars auf der Chassis-Grundlage des Alfa Romeo Tipo 33 Stradale entwarf.
Aus Gründen, die wir heute nicht mehr kennen, wurde Martins erster Versuch mit dem Namen P33 Roadster, der beim Turiner Autosalon im November 1968 enthüllt worden war, kurzerhand nach seinem Moment im Scheinwerferlicht wieder zerlegt.
Dass Franco Scagliones herzergreifend schöner Tipo 33 Stradale damals kein Erfolg war, erscheint einem heute unverständlich. Aber bei diesem kaum verhohlenen V8-Rennwagen waren der Preis und die fehlende Alltagstauglichkeit so exorbitant ausgeprägt, dass selbst die wohlhabendsten Kunden abwinkten.
Historisch betrachtet, machte man doch das Beste aus diesem Umstand: Denn als Alfa Romeo eine Handvoll dieser unverkauften Chassis Designhäusern wie Pininfarina, Bertone und Italdesign überließ, entstanden so einige der großartigsten Prototypen der Autogeschichte, die den avantgardistischen Geist dieser Epoche unvergleichlich verkörpern sollten.
Mit seinem UFO-ähnlichen Scheinwerfer-Cluster, der Wraparound-Windschutzscheibe und der dramatisch nach hinten gezogenen Luftleitfläche war der nicht vom Schicksal begünstigte P33 Roadster optisch dennoch ein grandioses Auto. Aber die hektischen Designreaktionen auf Bertones Space-Age-inspirierten Konzepten Alfa Romeo Carabo und Lancia Stratos Zero hatten ganz klar gezeigt, dass nun das Zeitalter der „Keile“ eingeläutet worden war.
Im Vergleich zu den sinnlich schwingenden Grand Tourer der sechziger Jahre war der P33 Roadster keine kurvenreiche Schönheit. Aber die Epoche der Schwünge und Bögen schien vorbei und Martin setzte sich wieder an seinen Zeichentisch, um einen zweiten Anlauf zu nehmen.
Dabei musste Martin im Jahr 1971 niemandem etwas beweisen. Ein Jahr zuvor war mit dem Ferrari 512S Modulo das wohl ungewöhnlichste Modell der Marke seinem Skizzenbuch entsprungen. Wie ein sensationelles V12-Raumschiff auf Rädern war der Modulo zunächst von der Pininfarina-Führungsetage abgelehnt worden, obwohl Martin mit seinem Projekt auch noch am Ende seines Arbeitstages weitermachte. Heute wird dieser Entwurf als Meilenstein in der Geschichte sowohl von Ferrari wie auch Pininfarina gewürdigt.
Von Anfang sollte Martins zweite Interpretation des Alfa Romeo Tipo 33 bis ins letzte Detail minimalistisch geformt sein. Er nahm sich die Zeit, um mit Abstand über die Formensprache nachzudenken, die ihren Siegeszug durch die gesamte Autoindustrie angetreten hatte. Und dann beschloss er, quasi ein Destillat der Urform dieses Trends zu schaffen.
Das Ergebnis dieses Prozesses ist der Tipo 33 Stradale – eine kompromisslose Form, die man auch als eine riesige Ecke Parmesankäse beschreiben könnte. Auch bei Alfa Romeo lag dieser Vergleich nahe und so tauften sie dieses Design Cuneo, italienisch für Keil. Mag sein, dass dieser Spider visuell nicht so spannend wie sein Vorgänger ist, dafür ist seine Schlichtheit von einer unverkennbaren Eleganz geprägt, die noch von dem kühnen, Disco-Ära-inspiriertem Farbschema unterstrichen wird.
Trotz der vielen, wie mit dem Rasiermesser gezogenen Kanten zeugen einige feinsinnige Designelemente von Martins Sensibilität. Man muss nur genauer hinsehen. Da wären beispielsweise die subtil, fast unmerklich gebogenen Finnen, die sich fast über die gesamte Länge des Fahrzeugs ziehen oder die leicht angehobene Verdeckung der Ansaugtrichter, die konstruktiv von einer Strebe des kleinen Überrollbügels gehalten wird und einen wunderbaren Blick auf die flammenspeienden Trompeten darunter erhaschen lässt. Ach ja, es gibt keine Türen. Wer braucht schon Türen?
Aber unsere Lieblingsmerkmale sind diese unmerklichen Höcker, die oben auf den Kotflügeln der ansonsten geradlinigen Karosserie sitzen und Raum für die Vorderreifen schaffen. Selbst dann, wenn man ihre Präsenz wahrnimmt, scheinen sie in der Wahrnehmung kaum da zu sein. Bemerkenswert, aber so ist es.
Der Alfa Romeo Tipo 33 Stradale Cuneo feierte 1971 bei der European Motor Show in Brüssel Premiere und, dass er bis heute existiert, scheint zu bedeuten, dass er ein Erfolg war. Zumindest mehr Zuspruch als der unglückliche Vorgänger erhielt. Festzustellen, dass die auf dem Tipo 33 Stradale basierenden Concept Cars die Zeit besser überdauert haben, als Scagliones einzigartiges Original käme wohl einem Sakrileg gleich.
Aber von allen Chassis, die als Trendsetter von charismatischen Designern eingekleidet worden sind, für die der Keil die zukunftsfähige Form schlechthin schien, nimmt für uns der Cuneo einen einmaligen Platz ein.
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2020