Classic Driver hat die Entstehungsgeschichte nachgezeichnet.
Die Geschichte der „Sting Ray“ begann ursprünglich mit der Corvette SS – einem Projekt, das den General-Motors-Werksrennwagen SR-2 ersetzen sollte. Zwei Exemplare der Corvette SS wurden 1957 gebaut, um bei den 24 Stunden von Le Mans anzutreten – doch eine Reglementänderung und der freiwillige Verzicht der Automobile Manufacturer Association, mit markenfinanzierten Teams im Rennsport anzutreten, machte diesen Plan zunichte. Die beiden Prototypen – einer davon ein „Testesel“ für Bremssysteme – fristeten daraufhin ein eher ereignisloses Leben auf der Teststrecke, bevor sie eingelagert wurden. Doch Bill Mitchell, damals Design-Vizepräsident bei GM – wollte sich durch die offizielle Selbstbeschränkung nicht die Freude am Rennsport verderben lassen. 1959 investierte er die symbolische Summe von einem Dollar, um einen der SS-Prototypen aus der Versenkung zurück zu holen.
Somit hatte Mitchell das passende Chassis für seinen Rennwagen, der auch noch über eine fortschrittliche De-Dion-Hinterradaufhängung verfügte. Doch als Designer war ihm natürlich auch der visuelle Auftritt des Wagens wichtig – und so ließ er seinem Team bei GM die kreative Freiheit, sich an dem privat finanzierten Projekt auszutoben. Gerade erst hatte Mitchell einen internen Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen GM-Designstudios angezettelt, um einen möglichst überzeugenden Entwurf für die neue Corvette des Jahrgangs 1960 zu erhalten. Gewonnen hatte hierbei der damals jüngste Designer Peter Brock. Entwickelt wurde die Corvette unter dem Codenamen XP-86 (der Begriff XP stand für „Experimental Pursuit“ und stammte aus dem Militärjargon, wo er primär in der Kampfjet-Entwicklung genutzt wurde), doch durch eine zwischenzeitliche Rezession und einen Vorständswechsel verzögerte sich das Unternehmen.
Für Mitchell war klar, was zu tun war: Mithilfe seines Teams – darunter der junge Larry Shinoda, der später bei Ford den Boss 302 Mustang zeichnete – verknüpfte er nach Feierabend die Technik des SS mit dem Look des XP-86. Der Prototyp hörte auf den Namen XP-87 und wurde in einem versteckten Raum hinter der Werkzeugkammer, dem sogenannten „Hammer Room“ zusammengesetzt. Gegen Ende des Jahres 1959 war die Zeit gekommen, das Geheimnis zu lüften: Ausgestattet mit einem 315 PS starken 4,6 Liter V8 unter der schwungvoll gewölbten Haube wurde der Rennwagen erstmals auf die Teststrecke geschickt.
Sein öffentliches Debüt machte der wegen seiner Flunderform als Stingray Racer bezeichnete Roadster mit Dick „Der fliegende Zahnarzt“ Thompson am Steuer auf dem Maryland Marlboro Raceway, wo er eine Podiumsplatzierung nur knapp verpasste. Ein eindrucksvolles Ergebnis, wenn man bedenkt, dass der bis zu 155 Meilen pro Stunden schnelle Stingray ab 140 Meilen pro Stunde dazu tendierte, wegen fehlendem Anpressdruck vorne abzuheben. Doch die Aerodynamik wurde verbessert, der Stingray blieb am Boden und Thompson konnte 1960 in seiner Klasse den ersten SCCA-Gesamtsieg einfahren. Doch Mitchell entschied, dass man aufhören sollte, wenn es am schönsten ist – und schickte den Stingray in den Vorruhestand. Ab diesem Moment fanden auch die GM-Bosse gefallen an den eindrücklichen Rennwagen und setzten ihn zukünftig als Showcar für das Unternehmen ein.
Natürlich war für die zweite Karriere des Stingray einige Änderungen notwendig. Der Rennwagen erhielt eine neue Glasfaser-Karosserie, einen Beifahrersitz – und die obligatorischen Corvette-Logos. In seiner neuen Rolle sollte der XP-87 Begehrlichkeit für die zweite Corvette-Generation erzeugen. Nachdem er sich für ein Jahr bravourös im Rampenlicht präsentiert hatte, übernahm Mitchell den Roadster als persönlichen Straßencruiser. Tatsächlich gibt es einige historische Fotos aus dieser Zeit, die ihn mit seinem typischen Filzhut hinter dem Steuer zeigen. Für den Einsatz auf der Straße wurde der „Stachelrochen“ zudem mit einem 5,4-Liter-V8-Einspritzmotor mit 375 PS und Scheiben- statt Trommelbremsen ausgestattet.
Heute ist das Stingray Concept ein prominentes Stück der GM Heritage Collection. Darüber hinaus steht der als Rennwagen und Designstudie erfolgreiche Roadster mit seiner Geschichte für den alten amerikanischen Traum, in Abstellkammern Legenden zu erschaffen. Wer nichts wagt, so wusste es Mitchell, der nichts gewinnt.
Fotos: GM