Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein so tief im Motorsport verwurzeltes Modell wie der Mercedes SL in seiner 1971 als Nachfolger der „Pagode“ eingeführten R107 Generation so viel gesetzter und braver auftrat als das Original. Über einen eindrucksvollen Zeitraum von 18 Jahren verkaufte Daimler dennoch 237.000 Einheiten, wovon 62 Prozent den Weg in die USA fanden. Immer weichgespültere Versionen verließen das Werk, mit dem nur 231 PS starken 560SL-V8 als traurigem Höhepunkt. Dieses exklusiv für Nordamerika, Japan und Australien gedachte Modell gab sich als Folge einer gründlichen Abgasentgiftung lethargischer als der in Europa verkaufte 500 SL mit 240 und ab Modelljahr 1986 sogar 245 PS.
Als Tuning noch Exzesse erlaubte
Vor Abschluss eines Kooperationsvertrags mit Mercedes im Jahr 1990 war AMG quasi in semi-offizieller Funktion mit dem Werk verbandelt. Optisches sowie motor- und fahrwerksseitiges Tuning für eine breite Palette von Mercedes-Fahrzeugen sicherten dem von Hans-Werner Aufrecht und Erhard Melcher 1967 gegründeten Unternehmen volle Auftragsbücher. Zumal AMG auch vor den 1980er-Jahren noch als opportun geltenden Exzessen nicht zurückschreckte. Als Auto-Tuning noch so angesagt war wie Duran Duran oder Schulterpolster – und es keine Geschmacksobergrenzen gab....
Ultimative Ausgeburt eines SL
Wem mehr daran lag, die morgendliche Fahrt zum Office um ein paar Zehntelsekunden zu verkürzen als vor einem Nachtclub für Aufsehen zu sorgen, fand in einem von AMG gepimpten Daimler das richtige Gefährt. Was uns direkt zu jenem Auto führt, das als ultimative Ausgeburt eines SL der Baureihe R107 gelten darf.
Obwohl das Modell aus Monaco auf den ersten Blick einem serienmäßigen SL gleicht, deuten doch zahlreiche Details auf die AMG-Gene hin. Wie die „6.0“-Plakette am Heck und die mit bauchigen Niederquerschnittsreifen umkleideten dreiteiligen und polierten AMG-Felgen. Erfrischend auch die Lackierung in Navy Blau (statt Schwarz oder Grau), ergänzt um Chromstreifen, die speziell die Linien des serienmäßigen Hardtops sanft nachzeichnen.
Wahl eines siebenfachen Weltmeisters
Doch richtig eindrucksvoll wirkt dieser SL erst beim Blick unter die Haube. Schickt doch der dort sitzende Zweiventil-Motor das damalige Leistungsmaximum von 331 PS, vielleicht sogar noch ein paar mehr, auf die Hinterachse. Um die geballte Ladung perfekt verzahnt auf den Asphalt zu bringen, wurde zusätzlich ein Sperrdifferenzial installiert. Heraus kam ein Kraftpaket, zu dessen Vorbesitzern laut des in Monaco ansässigen Verkäufers DG auch ein gewisser Michael Schumacher gehört.
Urschrei
Dank einer umfangreichen Restaurierung unter Ägide des früheren AMG-Ingenieurs und Gründers des Motorentuners MKB in Winnenden, Panagiotis Avramidis, präsentiert sich der SL wieder in altem Glanz. Aus Gründen der Praktikabilität – oder auf „Schumis“ Wunsch, man weiß es nicht.... - wurde zusätzlich eine für zwei Kinder unter zwölf Jahren geeignete Rückbank eingebaut, die Sitze mit passend zur Außenfarbe blau (statt zuvor beige) getönten Lederhäuten bespannt und ein Airbag-Lenkrad aus einem AMG E55 (W210) fixiert.
Die Tatsache, dass von AMG modifizierte Modelle schon damals einen gleich hohen Qualitätsruf genossen wie die Stuttgarter Werkswagen, legte Zeugnis ab vom großen Können der dort tätigen Ingenieure. Und schaut man heute auf die inzwischen 100-prozentige Daimler-Tochter AMG, haben sich die fundamentalen Prinzipien nicht geändert.
Fakt ist: Dieser SL 6.0 aus dem Jahr 1986 gehört zu den frühesten und seltensten AMG-Mercedes aus der Vor-Fusionsepoche und zu den definitiven SL der 80er. Auch wenn sein zivilisierter Habitus etwas gelitten hat, können wir ihn uns trotzdem sehr gut als tägliches Pendlerfahrzeug vorstellen. Denn selbst nach einem anstrengenden Tag im Büro vertreibt eine Fahrt in diesem SL den Blues aus den Rippen. Ganz speziell bei zuvor abmontiertem Hardtop....
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2016