Nennen Sie es magisch
Die Gruppe B-Ära war eine Epoche des Rallyesports wie kaum eine andere – zugleich magisch wie mystisch. Daran erinnern grobkörnige und farblich übersättigte Videos, mit todesmutigen Piloten am Steuer von Martini-gesponserten Lancias, die über Sprungkuppen fliegen, durch Serpentinen driften und Zuschauermassen teilen wie einst Moses das Meer. Immer auf dem feinen Grat zwischen ultimativer Präzision und großer Katastrophe wandelnd. Heute verzeichnen diese überzüchteten Rallyemonster dank ihrer Seltenheit, ihrer Herkunft und den mit ihnen verbundenen Erinnerungen und Emotionen teils extreme Wertzuwächse.
Lassen wir vor diesem Hintergrund unsere beiden Helden vorfahren. In der Hecktrieblerecke, mit einem Kampfgewicht von 980 Kilo, steht der Lancia 037 Evolution 2, mit dem Henri Toivonen 1984 bei der 1000-Seen-Rallye in Finnland Platz drei erreichte. In der Allrad-Ecke und mit rund 90 Kilo weniger Gewicht gesegnet wartet ein Lancia Delta S4 Corsa von 1985, das erste Modell, das unter dem neuen Gruppe B-Reglement homologiert worden war. Beides Ex-Werkswagen, liebevoll erhalten seit dem Tag ihrer Außerdienststellung, mit allen Fehlern und Schwächen.
Freundlicher Gigant?
Einschüchternd – das ist das vorherrschende Gefühl, wenn man sich dem Lancia Delta S4 nähert. Der ganze Auftritt ist aggressiv und angriffsbereit, und das ungewöhnlich hoch und breit gezogene Heck gemahnt daran, dass unter der Verkleidung ein zirka 550 PS starker Motor mit kombinierter Turbolader/Kompressor-Aufladung steckt. Wir erinnern uns, dass der S4 jener Wagen war, in dem Toivonen und sein Copilot Sergio Cresto 1986 bei der Tour de Corse ums Leben kamen. Damit war das Ende der Gruppe B besiegelt. Zur Legende aber wurde er schon in der kurzen Zeit davor.
„Der S4 ist so speziell, weil er so etwas ist wie das Mädchen, dass seinen Freund sitzengelassen hat“, wagt Max Girardo, der den von diesen Autos ausgehenden Reiz nur allzu gut versteht, einen ungewöhnlichen Vergleich. „Er hatte nur eine sehr kurze Lebenszeit, und als Folge wurden auch nur sehr wenige Autos gebaut. Doch das Beste: Obwohl er so beängstigend aussieht, ist er alltagstauglicher als man beim ersten Anblick denken würde. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wenn man das Gaspedal nur antippt, beschleunigt er schon wie eine Rakete. Doch die Servolenkung geht so leicht, dass man ihn problemlos durch London steuern könnte.“
037 hat weniger Power, aber mehr Stil
Oberflächlich betrachtet könnte man annehmen, der furchterregende und flammenspuckende Delta S4 wäre seinem Vorgänger in jeder Beziehung überlegen. Und in der Tat würde er bei einem Kopf-an-Kopf-Duell den Boden mit dem 037 putzen – man schaue sich nur als Beleg dieses Girardo & Co Dragrace Video an. Doch schaut man etwas genauer durch die Spaltmaße der Karosserie, ergeben sich interessante Vergleiche.
„Einerseits ist der 037 der ultimative Hecktriebler und der Delta S4 der ultimative Allradler“, kommentiert Girardo & Co’s Marcus Willis, erklärter Fan des 037. „Doch der 037 ist das hübschere Auto und hat als Einziger der beiden den WM-Titel errungen.“
Tatsächlich sicherte der 037 Lancia 1983 die Konstrukteurs-Wertung und sechs Siege – nicht schlecht für das erste Gruppe B-Programm der Marke. Auch der S4 war mit vier WM-Laufsiegen durch Toivonen, Markku Alén und Massimo Biasion sehr erfolgreich, doch die Krönung blieb ihm verwehrt, als die FIA die Gruppe B zum Ende der Saison 1986 verbot.
Perfekte Proportionen
Während der 037 im Leerlauf frenetisch vor sich hin brabbelt, fällt es schwer, sich nicht in seine Formen zu verlieben. Die Proportionen, von der eckigen Bugpartie des Monte Carlo bis zum steil stehenden Heckspoiler, passen einfach perfekt. Dieses Auto gehört Max persönlich, es ist ein finales „Evolution 2“-Modell, mit der 320 PS-Maschine (und Wassereinspritzung!) sowie leicht modifizierter Karosserie. Wenn Sie ein regelmäßiger Leser sind, erinnern Sie sich vielleicht daran, wie wir mit diesem Lancia einmal für einen Martini zum Duke’s in London fuhren – natürlich gedriftet, nicht gerührt.
Ein weiteres Argument, das für den 037 spricht, ist seine Zulassung zu wettbewerbsmäßig ausgetragenen historischen Rallyes. Von denen sind nämlich allradgetriebene Gruppe B-Autos noch immer ausgeschlossen. „Doch stärkt das nicht noch den Mythos rund um den S4?“, fragt Willis. „Er ist noch immer zu schnell, um legal zu sein, doch jeder möchte doch im Grunde ein Auto, das keine Rennen fahren darf, oder?“
Zeit für einen Martini!
Der 037 dagegen darf an einer ganzen Reihe von Events teilnehmen, darunter der Tour de Corse, der Rally Legend in San Marino und der Eifel Rallye in Deutschland. „Wenn Du einen Tourenwagen aus den 1980er-Jahren hast, bringst Du ihn den ganzen Weg nach Spa für ein 20 Minuten langes Rennen“, sagt Girardo. „Bei der Rally Legend hingegen setzt Du Dich in Deinen Gruppe B und fährst damit dann drei Tage, auf normalen Straßen und Sonderprüfungen. Das macht wirklich Spaß.“ Dazu kommt, dass der etwas schwächere 037 am Limit etwas einfacher zu beherrschen ist. Was ihn zu einem besonders wettbewerbsfähigen historischen Rallyewagen stempelt.
Am Ende des Tages sind alle Pro- und Contra-Argumente ausgetauscht und die Entscheidung muss fallen, mit welchem Wagen wir nach Hause fahren wollen. Da uns keine Budgetübergrenze hemmt, können wir die Tatsache vernachlässigen, dass der Wert eines S4 um ein Drittel über dem eines 037 liegt. Überraschend für uns, doch Girardo kennt den Grund: die Rarität, die über Schönheit geht.
Heldenhafter Henri
Beide sind im Grunde rollende Zeitkapseln aus Glasfaser und Kevlar. Die einen direkt in eine der spektakulärsten Epochen des Motorsports zurückkatapultieren. Ihre Perfekti0n liegt in ihren Schwächen – die fast schon comichaft schlechte Verarbeitungsqualität, die vielen Kratzer und Beulen – die alle eine Geschichte erzählen – und die kruden Innenräume mit einem Übermaß an zeitgenössischer Elektronik. Ein Highlight sind dagegen die Sitze, verziert mit einem aufgenähten Namenschild des heroischen Piloten am oberen Rand der Lehne.
Am Ende entscheiden wir uns zugunsten des 037. Denn es war kein Geringerer als Henri Toivonen, der dieses Auto bei der 1000 Seen über die Kuppen und durch die Wälder Finnlands trieb. „Er sprang mit diesem Auto so hoch, dass er sich den Rücken verletztes“, weiß Willis. „Diese Jungs kannten absolut keine Angst, echte Männer und echter Motorsport“.
Vergessen Sie jede Assoziation, die Sie mit dem Attribut „Cool“ verbinden und ersetzen sie sie durch diese beiden Martini Racing Lancia. Und nun lassen Sie uns zwei Martini bestellen!
Fotos: Tom Gidden für Girardo & Co. © 2018