Zeit für eine Beichte
Es ist an der Zeit, etwas zu beichten: Ich habe noch nie einen Turbolader der alten Schule selbst erlebt. Ich bin zwar mit modernen aufgeladenen Autos wie dem Golf R und dem aberwitzig schnellen McLaren 570GT unterwegs gewesen, aber wenn man nicht ein Kenner des spezifischen Ansprechverhaltens oder der Drehmomentkurve ist, könnte man kaum erfassen, dass deren Induktion gesteuert und nicht natürlich ist. Denn so unmittelbar und geradlinig erfolgt bei ihnen der Abruf der Leistung.
Rasche Abfolge
Turboladung wurde als technisches Phänomen Anfang der 1970er Jahre zunächst mit Vorsicht genossen, vermutlich deshalb, weil der Schub zu schön erschien, um wahr zu sein. Porsche war sicherlich maßgeblich für die Verbreitung dieser Technologie verantwortlich: Man denke nur an die Dominanz im Can-Am-Wettbewerb mit einem 917/30, der als „Turbo-Panzer” mit über 1.200 PS immer noch als einer der brutalsten und fortschrittlichsten Rennwagen überhaupt gilt. Als dann das ursprüngliche Serienmodell, der Porsche 911 / 930 Turbo, bei den Händlern auftauchte, kannten weder hartgesottene Enthusiasten noch die zu Geld gekommenen Yuppies kein Halten mehr. Man musste dieses für seine aufbrandende Leistungswelle berüchtigte Auto einfach besitzen.
Die Langlebigkeit des 930 war sprichwörtlich. Man mag sich gerne vorstellen, wie die Ingenieure in Zuffenhausen angesichts eines würdigen Nachfolgers die Stirne kräuselten. In den 14 Jahren seit dem Debüt des originalen 911 Turbo hatte das Bemühen um Verbesserung der Beatmung wie auch der Beherrschung dieser Kraft große Schritte gemacht. Folglich war der 1990 vorgestellte, weiterentwickelte 964 Turbo ein ausgezeichnetes Beispiel für diese Hausaufgaben: Er war geschmeidiger, fahrbarer und noch ein klein wenig leistungsfähiger als die verehrte Ikone der 1980er Jahre. Dafür trug er weiter am Heck den charakteristischen gewaltigen Spoiler.
Farbenblind?
Im Jahr 1993 gab es allerdings ein Update von Porsche: Der 964 Turbo erhielt ein neues, kräftigeres Triebwerk mit 3,6 Litern Hubraum, 355 PS und einer großzügigen Gabe an Drehmoment. Im Lauf von zwei Jahren wurden von diesen Power-Neunelfern weniger als 1.500 Stück gebaut - darunter diese in Blaugrün schimmernde Schönheit, die zur Zeit von Hexagon Classics angeboten wird. Die Lackfarbe ist eine damalige werkseigene Option, die zwar auf den beziehungsreichen Namen „Wimbledon Green Metallic” getauft worden war, wir aber niemanden gefunden haben, für den die Farbe nicht eher ein Blauton war. Egal, wie man nun diesen Ton wahrnehmen möchte, im Sonnenschein jedenfalls entfaltet er eine Anziehungskraft, die süchtig machen kann.
Die gewaltige Flosse am Heck entstammt direkt dem RS-Modell. Dann gibt es noch einen zwar nicht serienmäßigen, aber unglaublich coolen Ladedruckmesser in der Mitte der Armaturentafel. Davon einmal abgesehen, befindet sich dieses Modell, das nur rund 35.000 Meilen auf dem Tacho hat, in erstaunlich gutem Originalzustand. Das Interieur ist in einem Farbton namens Mushroom Grey ausgekleidet - über Geschmack lässt sich streiten, zumal in den 1990er Jahren die Grenzen des guten Geschmacks heftig ausgelotet wurden.
Eine Ausfahrt entlang der Vororte von Nordlondon am Steuer eines 964 Turbo stellt keine große sportliche Herausforderung dar, zumal, wenn es hochsommerlich heiß ist und der Verkehr nur schleppend voran kommt. Aber wenn die Straße plötzlich wieder frei ist und man achtsam das Gaspedal Richtung Teppich drückt, dann hebt sich der Vorhang zu einer einmaligen Show: Man wartet eine kleine Ewigkeit bis der Turbo sein optimales Moment erreicht, und was sich dann ereignet, kann man nurmehr als sinnliche Explosion aus Geschwindigkeit und Sound beschreiben. Das ist beileibe nicht das Jaulen eines V8-Ferrari oder das Gebrüll eines V12. Es ist ein wutschnaubendes, immer wieder stockendes Knurren, das aber durch kleine Pfeif- und Piepsgeräusche ein Grinsen ins Gesicht des Fahrers zaubert. Ich musste mich mehrmals ermahnen, vor lauter Aufregung nicht das Atmen zu vergessen.
Glaubensbekenntnis Turbo
Alles an diesem Porsche ist wunderbar unanständig, sogar sündhaft. Weswegen wir uns spontan entschieden, einen so verlockenden Sportwagen vor einer Kirche zu fotografieren. Sollte der Herr im Himmel tatsächlich einen Führerschein besitzen, dann dürfte die Wahl im göttlichen Fuhrpark nicht selten auf einen Porsche 964 Turbo fallen. Und wenn es in diesen Sommertagen einmal wieder kräftig donnert, dann ist es wahrscheinlich bloß der Atem aus diesem Lader. Ich für meinen Teil gehöre jetzt zur Glaubensgemeinschaft der Turbo-Anbeter. Und wenn es dieser sensationelle Porsche ist, der die Predigt dazu hält - umso besser!
Fotos: Amy Shore für Classic Driver © 2016