Der Lamborghini LM002 ist auch heute noch eine Erscheinung. Auch in ruhenden Zustand meint man bei diesem „Rambo Lambo” wütendes Schnauben und das Scharren der Hufe zu hören. Und diese einschüchternde Präsenz wird übrigens im Lauf des Tages nichts von ihrer Wucht verlieren. Wenn der 5.2-Liter-V12 aus dem Countach Luft holt für sein markdurchdringendes Brüllen, dann weiß man wirklich nicht mehr, ob es die eigenen Knie sind, die zittern – oder doch eher der Boden auf dem man steht. Man lasse sich nicht von der luxuriös eingerichteten Kabine einlullen, wenn man sich in den Fahrersitz gewuchtet hat – das Kupplungspedal ist so schwergängig, als müsste man die 2,7 Tonnen Kampfgewicht allein mit dem linken Fuß nach vorne drücken. Und dann erst die Lenkung. Von unterstützender Technik keine Spur.
Aber etwas hat der Lamborghini LM002 in geradezu schwelgerischem Überfluss: Präsenz. Kein Wunder, dass dieser riesenhafte SUV zu seiner Zeit Hollywoodstars, berüchtigte Potentaten und die jungen, leicht zu beeindruckenden ölreichen Scheichs gleichermaßen in seinen Bann zog. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass gerade die letzteren Kunden zur Ölkrise der 1970er Jahre beitrugen und damit das weitere Schicksal des LM002 besiegelten. Damals galt der lauernd geduckte Countach als der Supersportwagen schlechthin, aber der LM002 übertrifft ihn als brutalstes Nutzfahrzeug, das je die Werkstore von Sant'Agata verlies. Er war außerdem seiner Zeit weit voraus, denn heute wären seine Rivalen der Porsche Cayenne Turbo, Bentley Bentayga und Maserati Levante. Jene Sportgetüme, denen nun der neue Lamborghini Urus das Territorium streitig machen soll.
Verglichen mit dem bedrohlich imposanten schwarzen Bullen, der sich Lamborghini LM002 nennt, wirkt der neue Lamborghini Urus eher wie ein mollig geratener Eisbär, vor allem vor der Kulisse des bereits zugefrorenen Pragser Wildsees im Herzen der Dolomiten. Ein Eisbär in Italien also. Tatsächlich, in dieser gefrorenen, tief winterlichen Landschaft besitzt der schimmernd weiße SUV eine gewisse Ähnlichkeit mit dem arktischen Jäger. Die Familienähnlichkeiten mit dem LM002 muss man derweil suchen: Abgesehen von den hexagonal geformten Radkästen hat der Urus nichts gemein mit seinem muskulösen, fast urzeitlichen Vorfahren. Man könnte ihn sogar als knuddelig beschreiben, wenn man nicht wie bei jedem polaren Bären Respekt vor dem immensen Kraftpotenzial hätte. In diesem Fall verbergen sich unter der unschuldigen Hülle 650 PS Leistung bei einem maximalen Drehmoment von 850 Nm. Ein zeitgemäßes SUV von Lamborghini ist für viele Kritiker genau das Automobil, das sie gerne hassen würden. Nur erledigt er das, wofür er entwickelt wurde, mit staunenswerten Fähigkeiten – sei es die Fortbewegung auf tückischem Eis oder die Beschleunigung auf 250 Stundenkilometer auf der Autobahn.
Vor dem Ausflug an den See entführte uns Lamborghini zu den geschäftigen Weihnachtsmärkten von Bruneck, wo die wütenden Stiere für entsprechendes Aufsehen sorgten. Wie bei unserem gemeinsamen Ausflug nach Paris am Jahresanfang, entfesselte der Urus auch hier sofort begeisterten Zuspruch. Es kann aber auch sein, dass schon zuviel Glühwein konsumiert worden war. Der Lamborghini LM002 erwies sich derweil als perfektes Transportmittel für Weihnachtsbäume. Man hätte unmöglich das feine Lederinterieur des Urus verwüsten können, oder?
Auf der Fahrt zurück zum Stammsitz in Sant'Agata sprachen wir Lamborghini ein großes Lob aus: Man hätte die Alltagstauglichkeit des Urus mit einem vorweihnachtlichen Shoppingtrip zu den Innenstädten von Paris oder Mailand unter Beweis stellen können – eine Aufgabe, die für den LM002 ausgesprochen lächerlich gewesen wäre. Aber nein, die Marke mit dem Stier im Emblem entschied sich für das herausfordernde Terrain der Dolomiten, um zu beweisen, wozu diese beiden Kraftprotze in der Lage sind. Als direkte Folge dieses Erlebnisses mussten wir leider unsere Wunschliste für Weihnachten ergänzen. Passen die beiden Kolosse unter den Baum oder gar in den Sack von Santa Claus? Wir fürchten nicht...
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2018