Von der Existenz eines geheimen Automobil-Lagers im Keller des Alfa Romeo Museo Storico erfuhr ich zum ersten Mal während einer Fotoproduktion im vergangenen Jahr. Mir wurde damals gestattet, für ein paar kurze Sekunden hineinzugucken. Alles, was ich quer über den riesigen, dunklen Raum erspähte, waren vage bekannt anmutende und unter roten Tüchern verborgene Formen. Doch das reichte allemal, um für mich zu entscheiden, diesen mysteriösen, fast schon überirdischen Raum möglichst bald erforschen zu wollen. Weil ich wusste, dass er mit den seltensten und schönsten automobilen Schätzen des Planeten gefüllt sein würde.
Natürlich sprach ich diese Idee bei meinen Freunden von Alfa an, die mir dann auch in Aussicht stellten, dass es eines Tages klappen würde. Monat für Monat wartete ich, bis endlich ein Anruf kam, verbunden mit der Frage, ob ich nach Arese kommen könnte. Passenderweise kam die lang ersehnte Einladung kur nach dem Lockdown und nur wenige Wochen vor Alfa Romeos 110. Geburtstag am 24. Juni – hoffentlich der Tag, an dem Sie diese exklusive Geschichte bei Classic Driver lesen. Das Timing war nicht zufällig: Das Museo Storico hat nämlich beschlossen, das Warenhaus erstmals auch für das Publikum zu öffnen. Chefkurator Lorenzo Ardizio und sein Team hatten mit Volldampf daran gearbeitet, vor Ankunft der ersten Besuchergruppen später im Sommer die so lange verborgene Sammlung aufzubereiten und thematisch zu gliedern.
Bis auf das gelegentliche Knarren des Gebäudes aus den 1970er-Jahren – Alfas früherem Hauptsitz, der nun neben anderen Dingen das wundervolle Museo Storico beherbergt – und vereinzelten Windstößen ist es im zweistöckigen Warenhaus gespenstig leise. Man hat mich erstaunlicherweise mit meiner Kamera alleine gelassen, was die Stille in dieser automobilen Grabkammer noch lauter macht. Von einer solchen erlesen Auswahl an Autos umgeben zu sein, von ganz simplen Modellen bis zu exotischen und unbezahlbaren Schätzen, ist gelinde gesagt ein demütig stimmendes Erlebnis. Trotz der Abdeckplanen kann man das Gewicht der 110-jährigen Markengeschichte fühlen. Diese verhüllten Maschinen verlangen Respekt und Bescheidenheit, denn Alfa Romeo ist für fast alle Fans historischer Automobile ein geheiligter Name.
Ich bin alleine mit 200 Alfas, viele von ihnen komplett unbekannt, und habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Prototypen, Konzeptstudien, Rennwagen – was auch immer, es ist alles hier. Ich lüfte hier und da eines der Cover, entdecke einen Scheinwerfer, einen Außenspiegel oder eine Felge. Manchmal kann man nicht einordnen, was man gerade sieht, in anderen Fällen wiederum kann man kaum glauben, was man da erblickt. Zum Beispiel die Ex-Juan Manuel Fangio-Alfetta und den zweiten, weitaus weniger gepflegten Montreal-Prototypen, der seinerzeit für Straßentests genutzt wurde. Oder das Popoli-Alfa-Romeo-Boot, angetrieben vom V8 eines Tipo 33. Oh, und wussten Sie, dass es zwei Alfa 164 Procars gab? Ich definitiv nicht! Sie können sich sicher vorstellen, wie es ist, die Tücher wegzuziehen und dann von solch mystischen Modellen begrüßt zu werden.
Die den monoposti gewidmete Zone ließ mich ebenso sprachlos zurück wie die Sektion der Vorkriegsmodelle. In beiden fanden sich einige außergewöhnliche Fahrzeuge, jedes mit einer betörenden Karosserie und eines seltener als das andere. Natürlich stehen auch bekanntere Autos im Warenhaus – wie ziemlich standardmäßig ausgestattete Alfa Romeo 33 (das Straßenauto), 75, Alfasud, Duettos und sogar die gesamte Modellpalette der 1980er- und 1990er-Jahre.
Es geht hier unten weniger im Exklusivität als um Vollständigkeit und die Verfolgung jeder Spur in der Markengeschichte. Die starke Präsenz dieser bescheideneren „Youngtimer“ lässt mich erkennen, dass Alfa verstanden hat, wie Enthusiasten ticken. Diese Autos sind nicht notwendigerweise etwas für mich, doch sie sind ein wichtiger Teil der DNA, der volksnahe Essenz des Cuore Sportivo. Die Tourenwagen der 1980er- und 1990er-Jahre sind besonders aufrüttelnd. Warum nicht von Nicola Larinis Alfa 155 V6 TI träumen?
„Ein Museum muss eine Synthese aus einer Geschichte und einem Medium sein, eine Verbindung von den Exponaten zu den Besuchern herstellen. Diese Sammlung und das Archiv bilden die meisten wichtigen Kapitel der unglaublichen Alfa Romeo-Geschichte ab“, erklärt Kurator Lorenzo Ardizio, nachdem er mir im Warenhaus Gesellschaft geleistet hat. „Der ursprüngliche Kurator des Museums, Luigi Fusi, und seine Truppe haben beim Aufbau der Sammlung einen exzellenten Job gemacht. Aber offensichtlich fehlen noch einige Modelle. Manchmal kann das Problem schnell gelöst werden, zum Beispiel haben wir keine Spider der Baujahre 1983-1987, in anderen Fällen jedoch bleibt es ein Traum. Der einzige für die Saison 1914 gebaute Grand Prix-Rennwagen zum Beispiel wurde später zerstört.“
Als lebenslanger Alfisto, der schon mit dem herzerweichenden Sound der Rennwagen auf der nahe gelegenen Teststrecke Balocco im Ohr aufwuchs, trat Lorenzo Ardizio dem Museo Storico schon während des Studiums als Führer bei. 2015 wurde er eingeladen, das neu eröffnete Museum samt des Archivs zu kuratieren. Er kann sich verständlicherweise für alles, was mit Alfa Romeo zu tun hat, begeistern. „Geschichte, Design, Performance und Patriotismus sind alles Worte, mit denen ich Alfa Romeo beschreiben würde“, fährt er fort. „Doch das für mich persönlichste Element ist die Tatsache, dass es sich um eine inklusive und nicht exklusive Marke handelt. Jeder ist willkommen und kann Teil des Ganzen sein – im Museum treffen wir öfters Sammler eines 8C 2900, die mit Alfasud-Besitzern sprechen und gemeinsam ihrer Passion frönen.“
Der letzte Bereich des Warenhauses ist in zwei Abteilungen unterteilt. Da findet sich zum einen eine Sammlung aus über 150 Prototypen-Motoren – viele davon hatten es nie bis zur Serienfertigung gebracht, so wie die V10 und die Kreiskolbenmotoren. Sie können sich die hier herrschende Vielfalt kaum ausmalen, und wirklich alles wurde aufbewahrt. Der zweite Teil ist das Archiv, das hunderttausende Dokumente umfasst, von Blaupausen, technischen Zeichnungen und Bedienungsanleitungen bis zu Büchern, Aufzeichnungen von Testtagen in Balocco und Pressemeldungen. Es ist eine umerschöpfliche Menge an faszinierender Geschichten, die 110 Jahre umspannt! Aus Haftungsgründen werden diese beide Bereiche jedoch nicht öffentlich zugänglich sein.
Hat sich das lange Warten zur Entdeckung der verborgenen Schatzkammer nun gelohnt? Sie können sich meine Anwort bereits denken: Absolut! Und ich liebe es, dass dieses Archiv nun für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Denn wenn man schon nicht die Wände des Museums verschieben kann, warum nicht Besucher an die Hand nehmen und ihnen zeigen, was normalerweise nicht sichtbar wäre? Schließlich liegt im Verborgenen immer eine besondere Faszination – ich gebe zu, auch mir ergeht es so. „Menschen, Märkte, Autos und der Motorsport ändern sich alle mit der Zeit“, schließt Lorenzo Ardizio unseren Besuch. „Alfa Romeo konnte sich nicht nur regelmäßig neu erfinden, um überleben zu können. Die Marke ist bis heute ein wichtiger Protagonist der Automobilwelt geblieben.“ Auf die nächsten 110 Jahre Geschichte! Tanti Auguri di Buon Compleanno Alfa Romeo!
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2020