Hätten Sie das nahe des Pariser Flughafens Charles de Gaulle gelegene Citroën-Werk in Aulnay-sous-Bois vor seiner Schließung im Jahr 2021 gekannt – Sie würden es heute nicht mehr wiedererkennen. Das gesamte Areal wurde in eine Logistik- und Serviceplattform umgewandelt und nur ein Gebäude – einst Teil der riesigen Fabrik – ist bis heute erhalten geblieben. Es war zum Heiligtum der Marke geworden und beherbergte 280 historische Citroën. Nun wird es dasselbe Schicksal ereilen, und nach dem Abriss keine Spuren der Geschichte hinterlassen.
Xavier Crespin, der ehemalige Geschäftsführer von l'Aventure Peugeot Citroën DS, und Denis Huile, Heritage Manager von Citroën, haben uns zu einem letzten Besuch in ihre heiligen Hallen eingeladen. Dieses schmucklose und stille Gebäude ein letztes Mal zu betreten, war ein Erlebnis voller Emotionen. Eine wahre Zeitreise, die es uns ermöglichte, die Ikonen des Unternehmens noch einmal zu entdecken: den in diesem Jahr 80 Jahre alt gewordenen Traction Avant, die „Ente“ 2CV und natürlich die „Göttin“ DS, die 2025 ihr 70-jähriges Jubiläum feiern wird. Dazu Kleinwagen wie Visa und AX, den CX und den grandiosen SM mit Maserati-Motor. In den Gängen fanden sich aber auch seltene Leckerbissen: Modelle in limitierter Auflage, Exportversionen oder komplett für Motorsporteinsätze vorbereitete Fahrzeuge. Der riesige Ausstellungsraum beherbergte auch eine ganze Bibliothek von Gipsmodellen futuristischer Konzeptautos aus den 1960er-Jahren – als weiterer Beweis für die immense Kreativität der Marke mit den Doppelwinkeln. Wir saßen sogar auf der gleichen Bank, auf der die Arbeiter des Werkes Aulnay damals ihr Pausenbrot verzehrten...
Die Abschiedstournee war umso ergreifender, als sie uns in verschiedene Epochen versetzte, in denen Citroën eine wichtige Rolle in der europäischen Kultur spielte. Mit den Autos reisten die Franzosen in den ersten bezahlten Urlaub, die Tractions wurden während des Kriegs von der Résistance geschätzt – und später als „Gangsterlimousine“ berühmt – Citroën waren die Familienautos der französischen Arbeiterklasse, DS, CX und SM standen für Avantgarde, dann kamen die genialen Stadtautos der 1980er-Jahre und nach der Jahrhundertwende Limousinen, die im Zuge der Globalisierung für den chinesischen Markt entwickelt wurden.
Wie uns Xavier Crespin erklärte, entstand das Konservatorium in einem turbulenten Umfeld: „Es wurde 1982 von Pierre Peugeot gegründet. Damals ging es der PSA-Gruppe schlecht, es drohte die Verstaatlichung. Um das Erbe des Konzerns langfristig zu schützen, gründete Pierre Peugeot ‚l'Aventure Peugeot‘. Im Jahr 1988 rettete der Peugeot 205 den Konzern wirtschaftlich und Peugeot schuf ein eigenes Museum in Sochaux. L'Aventure Citroën, das zur gleichen Organisation gehörte, hatte immer seinen Sitz in Aulnay-Sous-Bois“. Unter Leitung von Crespin beschäftige l'Aventure 55 Mitarbeiter und 40 ständige Freiwillige an drei historischen Standorten: Sochaux, Aulnay und Poissy bei Paris. Daneben war L'Aventure auch für acht Kilometer Archiv und ein 2.000 Quadratmeter großes Ersatzteillager verantwortlich.
Weit davon entfernt, sich auf eine statische Ausstellungsfläche zu beschränken, entwickelte l'Aventure eine Reihe von Aktivitäten. Darunter den Online-Verkauf von Ersatzteilen mit 18.000 Posten für Peugeot- und Citroën- sowie für Simca- und Panhard-Fahrzeuge. Crespin, der diese digitale Transformation leitete, erklärt: „Die Teile kommen über drei Kanälen: bestehende, gekennzeichnete Teile, die wir in unserer Fabrik oder in unserem Autohaus vorrätig haben, Chargen von Einzelhändlern oder Privatpersonen und schließlich Teile, die wir mit 3D-, Kunststoff- oder Metallurgietechniken neu herstellen.“ 60 Prozent der Werkstätten für die Wartung und Restaurierung von Fahrzeugen, die für den Erhalt einer solchen Sammlung unerlässlich sind, wurden für externe Kunden und 40 Prozent für die Wartung der eigenen Fahrzeuge des Konservatoriums genutzt.
Was uns bei unserem Besuch in Aulnay besonders auffiel, war der ausgezeichnete Zustand der Fahrzeuge. „Wir gehen keine Kompromisse ein, verwenden nur Originalteile und achten auf historisch korrekte Materalien“, sagt Xavier. Natürlich sind einige der Konzeptfahrzeuge voll mit veralteten IT-Geräten und haben keine Gebrauchsanweisung, was ungeahnte Schwierigkeiten mit sich bringt. „Es ist weitaus schwieriger, in das Cockpit eines Konzeptfahrzeugs zu gelangen, als ein Vorkriegsfahrzeug wieder in Gang zu setzen!“, scherzt Xavier. Mit 620 Citroën in der Sammlung – von denen zuletzt 280 in Aulnay zu sehen waren - und weiteren 580 Peugeot ist die Verwaltung eines solchen Erbes zweifellos eine Herausforderung.
Manche Autos haben eine interessante Geschichte, wie der Ami 6, der von der Witwe eines Citroën-Liebhabers gestiftet wurde. Er hatte den Wagen neu gekauft und dann sein ganzes Leben lang gefahren. Nicht weit entfernt von einem nagelneuen C15 entdeckten wir den exklusiven 2CV Hermès mit seiner prächtigen Innenausstattung aus Stoff und Leder. Noch origineller: die im britischen Werk Slough und daher rechtsgelenkte DS. Sie parkte neben der DS ‚de la paye‘, die im Fond einen Tresor zur Aufbewahrung der Lohnschecks der Arbeiter beherbergte.
Aber Citroën war nicht nur Teil des französischen Alltags, die Marke ist auf Sinnbild für exotische Abenteuer: So bestaunten wir die Ausstellung von Autos, die die Welt bereisten – von den ZX für die Rallye Paris-Dakar bis zu den 2CV für Raids durch Afrika und Asien. Daneben zu sehen: der limitierte Citroën 2CV 007, der als Hommage an das Filmauto für den James Bond-Steifen „For your eyes only“ 1981 in einer 1000er-Edition (500 für den Kontinent, 500 für die britische Insel) aufgelegt wurde.
Obwohl l'Aventure Peugeot Citroën DS Ambitionen hatte, den Standort Aulnay zu fördern, muss er jetzt aufgegeben werden. Das Gebäude gehört der Region Ile de France, die heute andere Pläne hat und ihrer reichen automobilen Vergangenheit (einmal mehr) den Rücken kehrt. Wie sieht nun die Zukunft dieser einzigartigen Autosammlung aus? „Es ist geplant, die außergewöhnlichen Fahrzeuge des Konservatoriums einem breiteren Publikum zugänglich zu machen“, sagt Loïc de la Roche, Geschäftsführer von l'Aventure, in dessen Händen nun das Schicksal der Sammlung liegt. Die Eröffnung des neuen Museums sei frühestens in drei oder vier Jahren zu erwarten, zum Standort könne er noch nichts Genaues sagen. In der Zwischenzeit sollen jedoch alle Autos an einem sicheren Ort untergebracht werden.
Dieser letzte Besuch in Aulnay war erfüllt von Ernsthaftigkeit, Nostalgie und Respekt. Dieser stille und recht karge Ort war ein einzigartiges Zeugnis der industriellen Geschichte der Marke. Wir können nur hoffen, dass diese einzigartige Autosammlung bald an einem neuen Standort wieder zum Leben erweckt wird.
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver