Erinnern Sie sich noch an jenes belgische Schloss, in dessen Keller sich unzählige vernachlässigte Alfa Romeo aus den 1960er-Jahren fanden? Oder jene Schatztruhe der Familie Baillon mit ihren 60 in unterschiedlichen Stadien des Verfalls dahinschlummernden Schönheiten auf einem französischen Bauernhof, darunter der verloren geglaubte Ferrari 250 GT „California“ Spider von Alain Delon? Und den in einem verstaubten Lager für Kürbisse in San Francisco aufgespürte BMW 507 eines gewissen Elvis Presley? Wir alle ließen uns anstecken von der Hysterie, die sich nach jedem dieser spektakulären Scheunenfunde innerhalb der automobilen Sammlergemeinde ausbreitete.
Vergessen Sie die Bundeslade oder das Grabmal des Tutanchamun– die modernen Schatzsucher fahnden nach vergessenen automobilen Klassikern. Und manchmal landen sie dabei den ganz großen Coup. Wie die Jungs bei Mercedes-Benz Classic, die Ende 2018 den sprichwörtlichen Jackpot knackten, als sie Bill Warner, Gründer und Chairman des Amelia Island Concours d’Elegance, auf einen Mercedes-Benz 300 SL aufmerksam machte, der lang vergessen in einer Garage in Jacksonville, Florida vor sich hinschlummerte.
Und in der Tat fand sich in der dunklen, von Ratten heimgesuchten Garage ein komplett eingestaubter und lebloser „Flügeltürer“. Sogar seiner Chromzierleisten hatte man ihn beraubt und im muffigen Innenraum verstaut. Es handelte sich – wie sich später herausstellte - um den erst 43. im Stuttgarter Werk gebauten SL, was einige nur bei sehr frühen Modellen verbaute Details bestätigten. Das 1954 produzierte Auto war im Jahre 1965 hier abgestellt und dem friedlichen Verfall anheimgegeben worden. Wir wissen dies, weil Warner, ein enger Freund des Besitzers, sich daran erinnern kann, dass er den Wagen in seinem aktuellen Zustand bei einem lokalen Händler stehen sah, als er 16 Jahre alt war. Eine Zeitung aus dem 1965, die man in der Rückenlehne des Fahrersitzes fand, bestätigten die Jahreszahl.
An dieser Stelle sei ein kurzer Blick auf die Geschichte des Autos vor seinem 53-jährigen Dornröschenschlaf geworfen. Nach Fertigstellung im Oktober 1954 und in der Originalfarbe Medium Blau mit hellgrauem Lederinterieur wurde der „Gullwing“ in US-Spezifikation nach Los Angeles verfrachtet, von wo aus es direkt weiterging zu Waco Motors in Miami. Sein erster Besitzer, ein Anwalt aus Jacksonville namens Otto Bowden, war ein bekannter Sammler mit einer Vorliebe für europäische Sportwagen.
Bowden gründete auch den lokalen Sportwagenclub, der später Teil des Sports Car Club of America (SCCA) wurde, und setzte seinen exotischen neuen Mercedes sehr wahrscheinlich bei einer Reihe von Rennen ein. Passenderweise verkaufte er den Wagen dann an seinen Chefmechaniker Gene Clendening, der ihn weiter erfolgreich bei lokalen Clubveranstaltungen fuhr. 1957 folgte dann der Verkauf an den dritten und letzten Besitzer, einen in Jacksonville stationierten Marineflieger, der den Mercedes fast täglich benutzte, unter anderem für zahlreiche Überlandfahrten nach Washington D.C. oder West Virginia.
Es war vielleicht ein Plattfuß auf einer jener Reisen, die rund 56.000 Kilometer auf der Uhr oder die nun unübersehbaren Gebrauchsspuren, die den Besitzer dazu veranlassten, den „Flügeltürer“ neu zu lackieren und auch sonst aufzufrischen. Doch an diesem Punkt findet die Story ein abruptes Ende: Es scheint, als wären alle Vorbereitungen, darunter auch für die Neulackierung, abgeschlossen gewesen – worauf besonders die graue Grundierungsfarbe schließen lässt. Doch dann stoppte das Projekt, und der Wagen wurde aus unerklärlichen Gründen abgestellt und zurückgelassen.
Nun hatten die Mercedes-Benz Classic Spezialisten die einmalige Gelegenheit, das Grabmal zu öffnen und den Scheunenfund genauestens unter die Lupe zu nehmen. Trotz des verwahrlosten Zustands konnte das frühe Produktionsdatum und die außergewöhnliche Originalität schnell festgestellt werden. Von der Karosserie und dem verblichenen Leder über die Fensterrahmen und Felgen bis selbst zu den Englebert Competition-Reifen war alles original. Auch Motor und Getriebe glänzten mit Matching Numbers– wenngleich der Wagen, wie man sich vorstellen kann, aktuell nicht fahrbar ist.
Wie bereits erwähnt, sind einige charmante, fast an Prototypen erinnernde Teile speziell diesem 43. von insgesamt 1.400 bei Mercedes gebauten 300 SL vorbehalten. Dazu gehören der handgefertigte silberne Stern im Frontgrill, die über den Rädern angeschraubten „Augenbrauen“, die an der Oberseite abgeflachten hinteren Stoßstangenhörner und der Schwanenhals-Schaltknüppel. Und alles in 53 Jahren mit einer wunderschönen Patina überzogen – so etwas findet man wirklich nicht alle Tage.
Dieser außergewöhnliche 300 SL ist nun zurück in Deutschland, wo er in die Sammlung von Mechatronik, dem renommierten Mercedes Benz-Spezialisten aus Pleidelsheim, aufgenommen werden soll. Es war unser guter Freund Pascal Stephan, der uns freundlicherweise einlud, ihn bei der Abholung des Autos nach dessen kurzer Stippvisite im Mercedes-Benz-Museum zu begleiten – nur wenige Meter entfernt von der Stelle, wo der SL vor 64 Jahren geboren worden war.
Solch eine nicht alltägliche Aktion verlangt nach einer besonderen Kavalkade: Wir organisierten daher zwei wunderschöne 300 SL, einen silberner „Flügeltürer“ und einen schwarzen Roadster, und dazu Mechatroniks brillanten Ausstellungstransporter, mit komplett freier hinterer Ladefläche. „Das ist zweifellos ein ganz besonderer Tag für Mechatronik“, freute sich Stephan. „Dieses außergewöhnliche Fahrzeug ist eine Referenz für den 300 SL, und daher glauben wir, dass eine Restauration nicht infrage kommt.“
Wir konnten auch nicht widerstehen, nach einer traditionellen schwäbischen Scheune zu suchen, um dort das Autos für unseren Fotografen Mathieu Bonnevie sauber in Position zu stellen. Auch für uns bot sich nun die erste Chance, jeden Zentimeter des Wagens mit Chassisnummer #00043 genau zu studieren. Seine brutale Verwitterung verlangt viel Aufmerksamkeit, sie verleiht dem Auto eine fast abgehobene Aura. Man sehnt sich danach, seine Geschichte zu hören, wünscht sich, es könnte in eigenen Worten erzählen, warum es auf so mysteriöse Weise dem Verfall preisgegeben wurde. Doch im nächsten Moment wundert man sich auch über seine Unversehrtheit – über die Tatsache, dass jedes einzelne Teil 1954 von Mercedes-Werksarbeitern gleich nebenan in Stuttgart montiert worden ist.
Wenn Sie nach der Zukunft des Wagens fragen, dann sind wir erfreut mitzuteilen, dass er zumindest optisch sehr nah am aktuellen Zustand bleiben wird. Es wäre eine Sünde, seine Geschichte sauber zu wischen und eine Patina auszuradieren, die wir in einer solch verführerischen und zugleich respekteinflößenden Form zuvor noch nie erlebt haben. Wir sind sicher, dass der letzte Besitzer seine Gründe hatte, das Auto für so lange Zeit wegzuschließen. Doch indem er es tat, schrieb er auch schon dessen Zukunft. Nun müsste man das alte Mädchen nur wieder zum Laufen bringen.
Fotos: Mathieu Bonnevie für Classic Driver © 2019