In den letzten Tagen wurde der endlose Strom von Autos, Architektur, Design und „White Lotus“-Memes („Piper, nooo!“) auf unseren Smartphones durch ein Stakkato an Eilmeldungen unterbrochen, die von den neuesten Zolldrohungen aus dem Weißen Haus und den Aktienmärkten im freien Fall verkündeten. Und so sehr sich die globale Designszene bei der Mailänder Designwoche auch bemühte, die Bedenken hinter den neuesten Miu Miu-Sonnenbrillen zu verstecken, war der ökonomische Elefant im Raum doch schwer zu ignorieren. Schließlich sind die USA der weltweit größte Markt für Design und Möbel aus Italien und vielen anderen europäischen Ländern. So wurden die beim Salone del Mobile obligatorischen Negronis in diesen Tagen weniger zur Feier der neuesten Erfolge erhoben, sondern vielmehr im Schock geleert – und schnell wieder nachgefüllt. Entsprechend schwierig gestaltete sich in diesem Jahr auch die Suche nach den sonst so optimistischen Zukunftsvisionen durch Innovation, Kreativität und Design.
Stattdessen richteten die unzähligen Pop-Up-Ausstellungen der großen Marken und kleinen Galerien, die man in der Mailänder Innenstatt erkunden kann, den Scheinwerfer au die großen Designklassiker und Ikonen der Vergangenheit. Prada Frames brachte Gio Pontis kürzlich restaurierten, sehr an einen Wes-Anderson-Film erinnernden Arlecchino-Zug aus den 1950er Jahren für ein Designsymposium nach Milano Centrale, das in Sekunden ausverkauft war. Cassina feierte den 60. Jahrestag der modernistischen Möbelkollektion von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand mit einer faszinierenden, shakespearehaften Aufführung im Teatro Lirico Giorgio Gaber, während Perriands Werk auch bei Yves Saint Laurent in der Via Tortona die Bühne übernahm: Das Französische Modehaus feierte die große Gestalterin mit einer Neuauflage vergessener Möbel – und das sieben Meter lange Sofa, das Perriands im Jahr 1967 für den Japanischen Botschafter in Mailand entworfen hatte, gehörte sicherlich zu den gewagtesten und extravagantesten Kreationen der diesjährigen Designmesse.
Währenddessen hatte sich der Möbelhersteller und Wegbereiter der Bauhaus-Moderne Thonet mit dem minimalistisch Modelabel Jil Sander zusammengetan. Beim Fuorisalone präsentierten die beiden Partner eine eindrucksvolle zeitgenössische Interpretation des ikonischen Stahlrohrstuhls S 64 von Marcel Breuer. Einige Straßen weiter nördlich würdigte die ETEL Gallery das Italienische Werk von Oscar Niemeyers mit einer Serie von neu aufgelegten Möbeln, Drucken und Kunstwerken, während Loro Piana und das Mailänder Dimore Studio mit ihre immersive Installation „La Prima Notte di Quiete “ große Menschenmengen anzogen. Die komplett möblierte Wohnung aus den späten 1970er Jahren ähnelt einem glamourösen (und leicht chaotischen) Filmset, auf dem die It-Crowd mit Popcorntüten herumspazieren durfte.
Im 16. Stock des brutalistischen Wolkenkratzers Torre Velasca aus den 1950er-Jahren zeigte derweil Dedar eine Reihe von Neuauflagen avantgardistischer Webarbeiten der Bauhaus-Schülerin Anni Albers, einer Ikone der modernen Arts-and-Crafts-Bewegung. Die schönste Party der Ausstellung veranstalteten schließlich unser Freund Ted Gushue und sein Team von ERG Media zur Vorstellung ihres neuen Buches «Kaikado» – einer Hommage an die 150 Jahre alte japanische Handwerkstradition der Teedosenherstellung. Das Buch ist jetzt im CD-Shop erhältlich.
Eine halbe Zugstunde nördlich des Mailänder Stadtzentrums, in der Kleinstadt Varedo, hatte das jährlich stattfindende Alcova Designfestival nicht nur die berühmte modernistische Villa Borsani für eine Multi-Artist-Show in Anspruch genommen – das Team hatte auch die Ruinen der verlassenen rationalistischen SNIA-Fabrik in einen postapokalyptischen Spielplatz für Design-Jünger verwandelt und dabei die Grenzen zwischen Kunst, Design und zeitgenössischem, 3D-druckergestütztem Handwerk verwischt.
Würde die Zivilisation, wie wir sie kennen, morgen aufhören zu existieren, könnten die kreativen Köpfe, die diese faszinierende Kommune gegründet haben, sicherlich die transhumane Flucht ins All vorbereiten, indem sie in ihrem zerfallenden Gegenkultur-Refugium bunte Plastikraketen konstruieren. Die dytopische Alternative zu diesem Cyber-Hippie-Traum war derweil in den Katakomben von Dropcity unter dem Mailänder Hauptbahnhof zu sehen, wo die beunruhigende und leicht klaustrophobische Ausstellung „Prison Time“ die räumliche Dynamik in Strafvollzugsumgebungen erforschte. Viel Edelstahl, weniger Terrazza und venezianische Kronleuchter – das droht einem also in Mailand, wenn man nachmittags einen Cappuccino bestellt.
Angereist waren wir für die Milan Design Week – aber natürlich konnten wir unsere Leidenschaft für Autos nicht völlig ablegen. Nachdem wir uns an Stühlen, Beistelltischen und Regalen sattgesehen hatten, begaben wir uns auf die Suche nach den coolsten und kreativsten Automobil-Ausstellungen. Am Montag startete Pininfarina sein 95-jähriges Jubiläum mit einem VIP-Event, bei dem die beeindruckende Bandbreite von Italiens berühmtestem Designhaus präsentiert wurde – und neben dem elektrischen Hypercar Battista auch ein atemberaubend schöner Cisitalia ausgestellt wurde. Im Herzen von Mailands Modeviertel Brera hatte Range Rover derweil eine monolithische Zeitmaschine errichtet. Nachdem die Gäste ihre Bordkarten abgeholt hatten, wurden sie in das Jahr 1970 zurückversetzt und betraten einen holzgetäfelten Präsentationsraum, in dem zwei junge Mailänder Herren in zeitgemäßen Übergrößenanzügen den allerersten Range Rover Velar-Prototyp vorstellten – und versprachen, die Automobilwelt in den kommenden Jahrzehnten mit dieser ganz neuen Mischung aus Geländegängigkeit und Luxus zu revolutionieren. Es war die Geburtsstunde des SUVs. Im nächsten Raum wurden die Gäste jedoch wieder ins Jahr 2025 zurückgeschubst, wo nur der Anblick des neuesten Range Rover in nostalgischem olivgrünem Metallic-Lack den Schock der Rückkehr in unsere eigene Zeit linderte.
Wir erholten uns jedoch schnell mit einem doppelten Espresso bei La Marzocco, dem berühmten italienischen Kaffeemaschinenhersteller, der sich kürzlich mit Porsche zusammengeschlossen hat – und uns einmal mehr an die perfekte Verbindung zwischen Autos und Kaffee erinnerte. Auf der Via Alessandro Manzoni bot die Installation „Vibrant Transition“ von BMW Group Design im neoklassizistischen Innenhof des Palazzo Borromeo d'Adda den Besuchern die Möglichkeit, das neue individualisierbare Fahrerlebnis der Marke zu erkunden – und einen Blick auf das erste von Mini entworfene Elektromotorrad zu werfen. Die aufregendste und überzeugendste Kombination aus automobiler Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und ein ganz anderer «White Lotus»-Moment – erwartete uns jedoch in der Zona Tortona. Begrüßt von der zeitlosen Keilform eines schneeweißen Lotus Esprit der ersten Generation, verließen wir den geschäftigen Mailänder Westend, um tief in die Designphilosophie der Marke einzutauchen. So erkundeten wir kybernetische Theorien aus den 1960er-Jahren, futuristische Leichtbaumaterialien, die Geschichte der legendären goldenen Verzierung und eine Reihe von Prototypen zukünftiger Lenkräder. Leider war das gewagte Konzeptauto Lotus Theory 1 nicht in der Ausstellung zu sehen – die britische Marke sollte dennoch auf dem Radar jedes Autodesign-Enthusiasten bleiben.
Nach unserer viertägigen Inspirationsreise durch die Seitenstraßen und Hinterhöfe Mailands sehnten wir uns schließlich nach Benzindämpfen und guten alten Autogesprächen. Als unsere Freunde von Motoring Attitude uns zu einem spontanen Autotreffen auf der Piazza del Carmine einluden, mussten wir also nicht lange überlegen. Wer muss sich schon an einem lauen Frühlingsabend in Italien Gedanken über Zölle und Aktienkurse machen, während er einige der coolsten Autoklassiker der Stadt bewundert und Pizzastücke mit alten und neuen Freunden teilt? Als wir schließlich um Mitternacht in einem wendigen Alfa Romeo 1300 Junior durch Mailands Kopfsteinpflaster fuhren und die Nachtschwärmer die zeitlose Silhouette der Autos bejubelten, fragten wir uns unweigerlich, ob der Schlüssel zu einer besseren Zukunft tatsächlich in den Designphilosophien der Vergangenheit zu finden ist. Aber das ist ein Thema für eine andere Nacht.
Fotos: Jan Baedeker