Über 230.000 Zuschauer, Rennwagen, die in zehn verschiedenen Klassen antraten, Clubparkplätze, die vor Exoten und Klassikern strotzten, quadratkilometerweise Autodörfer, drei Outdoor-Discos mit Rock & Roll und eine Rennstrecke, die 13,6 Kilometer misst: Die Le Mans Classic 2023 hat jeden Versuch gesprengt, ihr an einem Wochenende gerecht zu werden. Der Maschinensound in den Ohren, Oktangerüche in der Nase und die vielen Menschen – es war eine himmlische Reizüberflutung. Allenfalls vergleichbar mit einer Partynacht mit Mick Jagger im Studio 54 im Jahr 1977. Diese sinnliche Fülle wiederzugeben, ist schier unmöglich, deswegen schildern wir lieber die Highlights.
Als allererstes müssen wir die Le Mans Winners Parade erwähnen, zu welcher der erste Bentley gehörte, der jemals in Le Mans gewann. Im Juni 1923 schoss der 3-Litre von John Duff und Frank Clement über die Ziellinie des erbarmungslosen 24-Stunden-Rennens. Zugleich war dies der erste Sieg überhaupt einer britischen Marke auf dem Circuit de la Sarthe. Nun, 99 Jahre später, steht genau dieses Auto auf der berühmten „Le Mans“-Aufschrift, die auf dem Asphalt zwischen dem Eingang zur Boxengasse und der Hauptgeraden aufgemalt ist. Und der Rennwagen ist nicht allein. Irgendwo dahinter kann man den letzten Bentley ausmachen, der in Le Mans in 2003 gewann. Neben diesem Speed 8 stehen drei Lorraine-Dietrich-Fahrzeuge, denen 1926 der erste eins-zwei-drei-Siegeinlauf gelang.
Lorraine-Dietrich war nicht der erste französische Konstrukteur, der bei den 24 Stunden triumphierte, noch der letzte. Chenard & Walcker gebührt die Ehre, vor 100 Jahren den ersten Lorbeer gewonnen zu haben, während der letzte Sieg Frankreichs von Peugeot in 2009 errungen wurde mit dem 908 HDi FAP. Diese beiden Autos gehören genauso zu diesem großen Auftritt wie auch der Peugeot 905 Evo, der 1992 und 1993 als erster die Ziellinie passiert und der Rondeau M379, der es 1980 schaffte. Französische Hersteller sicherten sich insgesamt 28 Rennerfolge bei diesem Heimspiel. Was Wunder, dass der Matra-Simca MS670 in Gitanes-Farben von Pescarolo und Larousse, Sieger in 1972 und 1973, hier steht, wie auch der Renault Alpine A442, den an diesem Tag Alain Serpaggi fährt.
Allerding war das Lorraine-Dietrich-Team auch das erste, dass zwei aufeinander folgende Siege einfuhr. Eine Leistung, die sich natürlich jede Marke – von Ferrari über Ford bis Porsche – zum Ziel setzte. Es galt nicht mehr, einfach in Le Mans zu siegen, bei jeder Auflage zu dominieren, war der neue Maßstab des Erfolgs.
Von diesem Blickwinkel aus waren wir nicht überrascht, dass Ford (Siege in 1966, 1967, 1968, 1969 und 1975) und Porsche in großer Zahl vertreten waren. Der rote, in Le Mans siegreiche 917K von 1970 in den Stallfarben von Shell und Marechal stand, als wäre er seiner Legendenbildung bewusst, stolz auf dem Asphalt. Er wurde damals von Hans Herrmann und Richard Attwood gefahren und schloss das Rennen mit einem Vorsprung von fünf Runden zum nächsten Auto ab. Der spektakuläre Long Tail 917-043 im Hippie-Look mit der unvergesslichen Livree von grün über lila war genau dahinter positioniert.
Wie dieser Porsche beweist, avancieren manche Autos wegen ihrer Stallfarben zu den Lieblingen der Zuschauer. Die Gulf Ford GT40, die Jaguar Silk Cut XJR-9 und der BMW V12 LMR, der durch seinen Le Mans-Sieg 1999 und als Jenny Holzers „Protect me from what I want“-BMW Art Car fallen definitiv in diese Kategorie. Andere wurde aufgrund ihrer Form zu Ikonen erhoben: Es gibt keine besseren Beispiele als der C-Type von Duncan Hamilton und Tony Rolt oder die eleganten D-Type-Exemplare, die Mike Hawthorn für Ecurie Ecosse fuhr.
Der 250 TR (TR28), Sieger von 1958, der von Phil Hill und Olivier Gendebien gelenkt wurde und nach Le Mans von dem Vater-Sohn-Gespann Sir Michael und Philip Kadoorie gebracht wurde, gehört ebenfalls fraglos in diese zweite Gruppe der Autoskulpturen und ist schlicht atemberaubend. Da wir gerade bei dem Adjektiv atemberaubend sind, müssen wir unbedingt noch den 600 Kilo leichten Maserati Birdcage Tipo 61 – einer von nur 17 Stück – erwähnen, der auf den Track von Stephane Darracq, Chef der 24 Stunden von Le Mans, vorgefahren wurde.
Andere Rennmaschinen sind einfach wundervoll eigenwillig. Der Mazda 787B mit Saugmotor, vier Rotoren und 2600 Kubik – Sieger von 1991 – erfüllt nicht nur dieses Kriterium, sondern klingt auch noch hinreißend. Der Cadillac Series 61 „Le Monstre“ zählt ebenfalls dazu: Er sieht aus wie ein Raumschiff aus einem Cartoon und ist aberwitzig groß proportioniert.
Aber was Skurriles angeht, kommt man am experimentellen Rover-B.R.M-Rennwagen mit Gasturbine nicht vorbei. Er mag nicht erster in Le Mans geworden sein, aber als Prototyp (ohne Klassenzuteilung, Grid-Nummer 00) schrieb er Geschichte, als er 1963 als insgesamt achter mit den Fahrern Graham Hill und Ritchie Ginther die Ziellinie passierte. Er brauchte nur einen Satz Reifen für die gesamten 24 Stunden. Er hört sich an wie ein Jet und hat ein in zwei-ton-farbenem Cord ausgekleidetes Cockpit – kein anderer Rennwagen in der Geschichte kommt dem gleich!
Hand aufs Herz, wie viele, alle an einem Platz versammelte, Vorkriegs-Bentley haben Sie in der letzten Zeit entdeckt? Am letzten Wochenende haben wir 78 gezählt. Eine schwindelerregende Zahl und eine Leistung, die wohl unerreicht bleibt. Die schiere Zahl bedeutete, dass die Bentley-Besitzer ihren eigenen, abgetrennten Paddock haben mussten. Die Tatsache, dass wir erleben durften, wie sie alle den traditionellen Le Mans-Start absolvierten, war so unglaublich, dass wir nicht sicher sein konnten, zu träumen. Als Trost können wir für Sie festhalten, dass 78 Bentley unter Vollgas Richtung Dunlop-Brücke unterwegs, dröhnen wie 78 Lastwagen. Also hatte Ettore Bugatti doch nicht so ganz unrecht mit seiner Beschreibung von W.O.s Schöpfungen. Wenn man entlang der berühmten Geraden von Le Mans steht und einen Musikzug aus Dudelsäcken und Trommeln erlebt – kurz bevor diese historischen Veteranen ihre Ehrenrunden starten -, dann gehört das zu den unvergesslichen Momenten, die uns an diesem Wochenende geschenkt wurden.
Bugatti ist natürlich ein alter Bekannter in Le Mans und deswegen waren wir überglückt, so viele bedeutende Modelle auf der Rennstrecke zu erleben genauso wie sehr seltene Memorabilien wie die Trophäe von 1937, die Jean Pierre Wimille und Robert Benoist im berühmten Bugatti Tank errangen. Die Trophäe wurde zum Track im Begleitung eines besonderen Konvois von Klassiker von unserem Freund und Kollegen Rémi Dargegen gebracht, der sie als Leihgabe von der Pearl Collection, eine der wichtigsten Bugatti-Privatsammlungen der Welt , erhalten hatte.
Wer einen Hang zu den jüngsten Instagram-Trends pflegt, entdeckte sofort die Autos, die seinerzeit von Tetsu Ikuzawa unter dem Banner des Teams Ikuzawa antraten – inzwischen erfolgreich von seiner Tochter Mai wiederbelebt. Sowohl der Porsche 906 von 1967 und der der Porsche 935 von 1980 gaben sich in Le Mans die Ehre. Sie beide real zu bestaunen, nachdem man sie seit dem Type 7-Band über Ikuzawas außergewöhnliches Leben heftig begehrt hatte, war ebenfalls so ein ganz spezieller Moment.
Das perfekte Pendant zum Ikuzawa-935 war Privatrennfahrer Philip Kadoories Porsche 962-201, bekannt als „Pinky“, der den ganzen Weg von Hongkong nach Le Mans gereist war.
In der Nacht erlebt wir Partys in den Boxen oberhalb der Pitlanes und gleißende Scheinwerferlichter, die den dunklen Wald von Mulsanne erhellten. Im Morgengrauen suchten wir nach den Stichflammen, die aus den Endrohren der verschiedenen Gruppe B und C-Rennwagen explodierten. Am Streckenpunkt Arnage sahen wir den kuriosen turbinenbetriebenen Howmet TX, der sich mit Ford GT40 und verschiedenen V8 Chevrons einen Kampf lieferte. Samstagmittag ließ uns der Start von Little Big Mans hoffe, dass mit dem autoverrückten kleinen Nachwuchs die Geschichte des Verbrennungsmotors noch nicht ganz zu Ende geschrieben ist.
Wenn man einmal von der riesigen Teilnehmerzahl bei der diesjährigen Jubiläums-Le Mans Classic ausgeht und der ausgelebten Leidenschaft für laute und schöne Rennwagen, die wir beobachteten, dann ist der Verbrenner noch lange nicht reif fürs Archiv. Für uns bei Classic Driver ist das belebend und beruhigend zugleich.
Fotos: Błażej Żuławski and Sian Loyson