Sollte Disney jemals beschließen, ein automobiles Spin-Off zu seinem animierten Fantasy-Musical Frozen zu drehen, könnte dies die Handlung sein: Während sie in einem glamourösen Schweizer Alpenresort ein Selfie macht, friert Influencer-Königin Elsa mit ihren frostigen Superkräften versehentlich das ganze Tal und den See ein. Doch statt Panik und Verzweiflung zu verbreiten, nutzen die autobegeisterten Einheimischen den zugefrorenen See, um mit ihren kostbaren Autos übers Eis zu driften. Damit ist das Stichwort gegeben für Gesang, Freudentränen und ein Happy End! Ersetzen Sie Königin Elsa durch Ronnie Kessel und Sie bekommen eine Vorstellung davon, was am vergangenen Wochenende bei The ICE St. Moritz passiert ist.
Normalerweise würde man ein solches Aufgebot an ikonischen Konzeptprototypen, siegreichen Rennwagen und einzigartigen, in bester Coachbuilding-Manier hergestellten Schönheiten auf den gepflegten Rasenflächen von Pebble Beach oder dem Anwesen des Grand Hotels Villa d'Este erwarten. Für die dritte Ausgabe des International Concours of Elegance – oder einfach ICE – in St. Moritz ist es dem Team um Ronnie Kessel und Marco Makaus gelungen, einige der schönsten Sammlerfahrzeuge der Welt auf den zugefrorenen St. Moritzersee zu locken.
Und das Eis schmolz schnell. Das diesjährige warme und schneearme Winterwetter hatte die Veranstaltung fast in Frage gestellt – und nachdem das Eis endlich als sicher genug befunden wurde, um Dutzende von Autos und Tausende von Menschen zu tragen, liefen die Zuschauer misstrauisch um die Schneematschpfützen herum, die sich um die Autos herum gebildet hatten, und fragten sich, ob St. Moritz insgeheim plante, das erste Oldtimer-Riff der Welt auf dem Grund seines Sees anzulegen und sein Jetset-Dorf in ein alpines Schnorchelparadies für die Superreichen zu verwandeln.
Glücklicherweise brach die Oberfläche nicht, so dass wir das Vergnügen hatten, einige der weltweit grandiosesten Autos zu sehen, wie sie zum allerersten Mal überhaupt, Pirouetten auf dem Eis drehten. Der spektakulärste und Instagram-tauglichste Anblick des Wochenendes war sicherlich die Ansammlung von Konzeptautos und experimentellen Prototypen, viele von ihnen einzigartige Artefakte visionären Designs und der Automobilgeschichte. Da war zunächst der Lincoln Indianapolis aus der Pearl Collection – ein von Boano in den 1950er-Jahren entworfener, leuchtend oranger Jet-Age-Gleiter, den wir Ihnen bereits in unserer Teaser-Story vorgestellt haben. Daneben erinnerte einer von zwei von V8-Motoren angetriebenen Mercedes-Benz C111-II an den Flügeltürer der Stuttgarter aus den 1970er-Jahren, der in der Ölkrise unterging. Der vom Mercedes-Benz Museum nach St. Moritz gebrachte Prototyp war wohl das einzige Auto am Concours, das man mit Geld nicht kaufen kann. Ein weiterer Kindheits-Postertraum war der Lancia Sibilo, ein goldbrauner Sci-Fi-Monolith, der 1978 von Bertones Wunderkind Marcello Gandini entworfen wurde. Das ungewöhnliche Auto ist Teil der Lopresto-Sammlung und wir werden nie den Testflug durch Mailand vergessen, zu dem uns Corrado und Duccio Lopresto vor einigen Jahren eingeladen hatten.
Das spektakulärste Konzeptfahrzeug des ICE war jedoch der mythische Lancia Stratos Zero HF. Das keilförmige UFO auf Rädern, 1970 ebenfalls von Marcello Gandini für Bertone entworfen, sah aus, als wäre es gerade von jenseits der Stratosphäre auf das Eis herabgeschwebt. Sein Besitzer Philip Sarofim erhielt zu Recht die diesjährige Best-of-Show-Trophäe, weil er es gewagt hatte, das bahnbrechende Konzeptauto in die Alpen zu bringen – und es sogar für einige unwirkliche Schneeräumungsrunden um den Kurs zu fahren. Nachdem der Zero das ganze Wochenende über von Menschen umringt war, gewährte uns Philip am Sonntagmorgen freundlicherweise ein Tête-à-Tête mit seinem außerweltlichen Auto.
Die Auswahl der bei The ICE gezeigten Fahrzeuge kann sicherlich mit der Qualität von Pebble Beach und Villa d'Este konkurrieren, aber der Concours von St. Moritz hat einen großen Vorteil: Man kann die Fahrzeuge in Aktion sehen und hören. Dies war besonders wichtig für die Klasse der Fahrzeuge, die anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des 24-Stunden-Rennens von Le Mans zusammengestellt wurden. Mit einem seltenen Bentley 3-Liter aus dem Jahr 1925 und einem feuerspeienden Ferrari 365 GTB/4 Daytona Gruppe 4-Rennwagen aus den 1970er- Jahren stellten die Besitzer den berühmten Le-Mans-Start nach, indem sie zu ihren Autos sprinteten, bevor sie einige Jubiläumsrunden auf der Eisbahn drehten. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie Gregor Fiskens von Fiskens in London die Zuschauer mit Schnee besprühte, während er in einem AC Cobra 289 herzhaft driftete. Oh, und Miami Vice mag weiße Testarossas in Mode gebracht haben, aber nur bei ICE von St. Moritz gab es den legendären weißen Ferrari Testa Rossa „Lucybelle“ zu sehen, der 1958 bei den 24 Stunden von Le Mans antrat. Don Johnson, friss Schnee!
Apropos Ferrari: Die Eismeister haben es sich zum Sport gemacht, die seltensten und wertvollsten Rennpferde für ihre Winterveranstaltung zu gewinnen. Nach dem letztjährigen Auftritt eines göttlichen 250 GTO hat es das diesjährige Programm irgendwie geschafft, den Einsatz mit frühen Barchettas wie einem 225 S Vignale und einem 340 MM, All-Star-Rennern wie einem 250 Tour de France, einem 250 MM und einem 250 GT SWB Competizione, einem atemberaubenden 750 Monza sowie einem verführerischen 500 Mondial zu erhöhen – plus einem der seltsamsten Autos, die jemals in Maranello gebaut wurden: dem eiförmigen Ferrari 166MM/212 Export, liebevoll „Uovo“ genannt.
Während die Ferrari schlichtweg atemberaubend waren, müssen Lamborghini-Jünger beim Anblick des einzigartigen, dunkelgrünen „Millechiodi Miura“ in Ohnmacht gefallen sein – das perfekte Auto, um das im kommenden Mai anstehende 60-jährige Bestehen der Marke zu feiern. Unser Lieblingsrennwagen aus Italien war jedoch der einsitzige Maserati 420M/58 „Eldorado“, den Stirling Moss 1959 bei der zweiten Auflage des „Race of Two Worlds“ („Mozanopolis“) in Monza fuhr. Mit seiner Karikaturlackierung, die für den Verzehr von Eldorado Sud-Eiscreme warb, hätte es keinen besseren Monoposto für diesen Anlass geben können.
Wenn Sie hingegen britische Rennwagen bevorzugen, konnten Sie den knallroten Aston Martin 2 Litre Speed von 1937, einen hellblauen Jaguar D-Type, der von den Herren von Drivershall über das Eis getrieben wurde, oder den bemerkenswerten Jaguar XK 120 „Jabbeke Record“ mit seinem Taucherglocken-Cockpit bewundern (vielleicht war an der Theorie des schnorchelnden Riffs ja doch mehr dran).
Der für das Eis am besten vorbereitete Oldtimer kam jedoch aus Deutschland: Der auf einem Porsche 356A basierende PXG Polar Porsche mit Raupenantrieb von Palkyrie Racing wurde von Renée Brinkerhoff für einen guten Zweck quer durch die Antarktis gefahren, um Spenden für ihre Charity zur Bekämpfung des Kinderhandels zu sammeln. Nach ihren Abenteuern auf dem gefrorenen Kontinent müssen sich die Runden auf dem Eissee von St. Moritz wie ein Spaziergang im Park angefühlt haben.
St. Moritz ist nicht nur ein Ort, an dem man ständig von pelzverbrämten, zigarrenrauchenden Tim und Struppi-Figuren umgeben ist, die die Welt durch eine Brille in Onassis-Größe betrachten. Der Ort ist auch ein Zufluchtsort für alle Arten von Sportlern und Draufgängern der alten Schule – das Ausloten der Grenzen der Physik mit Hilfe von Geschwindigkeitsapparaten ist seit langem Teil der örtlichen Folklore. Man muss nur den Hügel hinaufgehen und den Skeletonfahrern zusehen, wie sie beim Cresta Run mit todesmutiger Geschwindigkeit den Eiskanal hinunterrutschen, und schon hat man eine Vorstellung davon, worum es geht.
Dieser Geist des unerbittlichen, altmodischen Sportsgeistes ist es auch, der dem ICE seinen einzigartigen Reiz verleiht. Unter die vielen lokalen Automobil-Impresarios mischte sich natürlich auch Simon Kidston, der seinen Bugatti Type 35 in echter Gentleman-Racer-Manier über das Eis fuhr, während Le-Mans-Sieger Tom Kristensen in einem Auto Union Type C über den See driftete. Lassen Sie dieses Bild nur mal einen Moment lang auf sich wirken...
Der unbestrittene König der St. Moritzer Minusgrade ist jedoch Fritz Burkard. Er war ständig hinter dem Steuer eines seiner fantastischen Autos – darunter sein Ex-Scuderia Ferrari Alfa 8C Monza – zu sehen. Wie ein rasender Desperado, der seine Fahrzeuge genauso bewegt, wie es die Hersteller beabsichtigt hatten: mit full speed und ohne Rücksicht auf irgendetwas anderes als die Freude an Geschwindigkeit und Klang.
Bevor wir uns ins Suvretta House zurückzogen, um uns mit einer dampfenden Tasse Earl Grey und einem Stück Bündner Nusstorte in der glamourösen Haupthalle des Grand Hotels aufzuwärmen, war es an der Zeit, selbst auf die Eisbahn zu gehen. Also sprangen wir in den Tatra 87 von 1947 mit der slowakischen Langstreckenrennfahrerin und „Bentley Belle“ Katarina Kyvalova. Die es dann irgendwie schaffte, den robusten tschechoslowakischen Kleinbus unter dem Beifall der Zuschauer in einer letzten Abschiedsrunde sideways um den Kurs zu wuchten. So was gibt es wirklich nur bei The ICE St. Moritz...
Fotos von Błażej Żuławski für Classic Driver © 2023