Die Schweiz ist weithin bekannt als Quelle für feinste Schokoladen, Käsesorten und Uhren, aber wenn es um Autos geht, hielt sich die Produktion in einem eher überschaubaren Rahmen. Aber nach regen Unternehmungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die heute fast vergessene Phänomene wie den Pic-Pic, den Ajax und den Martini – mehr schüttelnd als rührend – hervorbrachte, haben die Schweizer mehr oder weniger in den dreißiger Jahren das Werkzeug für den Automobilbau beiseite gelegt, um sich auf das handwerkliche Können zu fokussieren, für das sie in der Welt berühmt sind.
In den Folgejahren hinterließ nur Enzmann einen Eindruck mit seinen VW-basierten Fiberglas-Roadster, die von den späten fünfziger bis in die sechziger Jahre gebaut wurden. Aber als der damals 33 Jahre alte junge Schweizer Rennfahrer und Werkstattbesitzer Peter Monteverdi 1967 bei der Frankfurter Internationalen Automobilausstellung die Hüllen von einem zweisitzigen Coupé namens Monteverdi High Speed 375S Frua zog, waren die Messebesucher von dem schön geformten Grand Tourer restlos hingerissen. Es sollte der Beginn einer turbulenten, 15 Jahre währenden Reise als wichtigster Autohersteller der Schweiz werden.
Die Kennzeichnung „375“, die sich auf die ausgewiesenen 375 PS des Chrysler 440 Magnum V8 bezog, sollte bald andere Modelle begleiten. Der Grand Tourer par excellence sollte der High Speed 375/4 – und von diesem hat uns der spezialisierte Schweizer Händler Andreas Wüest nicht nur ein, sondern gleich zwei Exemplare der seltenen Spezies für unser Fotoshooting in Zürichs angesagtem Stadtteil Kreis 5 zur Verfügung gestellt. Während der letzten Dekaden konnte man beide Limousinen im Monteverdi Museum in Basel bewundern, ehe es 2016 endgültig schließen musste. Das Modell in Silber ist nichts weniger als der allererste Vertreter mit Fahrgestellnummer 1, das schwarze Auto ist hingegen eines der letzten Fahrzeuge, die gefertigt wurden, mit neuen Rädern, Stoßfängern, einem überarbeiteten Interieur und dem sehr raren optionalen Schiebedach.
Obwohl sich die Bezeichnung „/4“ auf die viertürige Version bezieht, basierte das Auto auf dem Aufbau des zweitürigen 375L 2+2 mit einem Radstand, der um knapp 52 Zentimeter verlängert worden war, um hinten luxuriöse Beinfreiheit zu ermöglichen und zugleich genügend Raum für Extrawünsche des Kunden zu bieten. Der ursprüngliche Besitzer des silbernen, von Frua gezeichneten Autos mit Chassisnummer 1 aus dem Jahr 1970 hätte sich übrigens alles nur Erdenkliche an Extras ausdenken können, es war niemand anderer als Peter Monteverdi höchstpersönlich.
Die genauen Produktionszahlen von Monterverdi zu ermitteln, ist bekanntlich schwierig: Es wird angenommen, dass zwischen 28 und 35 Stück des 375/4 gebaut wurden. Und wenn man die Geschichte hinter dem silbernen Auto erfährt, beginnt man zu verstehen, weshalb das alles nicht so eindeutig ist. Nachdem die Serienproduktion 1973 eingestellt wurde, denn künftige Monteverdi wurden nur auf Bestellung gebaut, ließ Herr Monteverdi sein eigenes Chassis 1-Auto mehrfach umspritzen, um den Eindruck zu erwecken, dass mehrere Exemplare erhältlich waren. Die Silberlackierung ist die Originalfarbe, aber Monteverdis eigenes Auto war auch einmal schwarz. Bei einem großen Hersteller hätte diese Praxis etwas listig gewirkt, aber bei Monteverdi verlieht es den Charme eines David gegen die Goliaths der etablierten Industrie.
Trotz dieses Cachet einer Manufaktur baute Monteverdi Autos, welche die Reichen tatsächlich begehrten – belegt durch die Mehrheit der 375/4, die in die USA und den Mittleren Osten exportiert wurden. Die königliche Familie von Katar soll sogar so überzeugt von den Schweizer Autos sein, dass angeblich noch heute etliche als royale Dienstwagen im Einsatz sind. Neu dürfte das silberne Modelle etwa um die 80.000 Schweizer Franken gekostet haben, eine preisliche Kampfansage von Peter Monteverdi, der Ferrari gern eins auswischen wollte.
In 1955 mit sehr jungen 21 Jahren erhielt Monteverdi die Ferrari-Agentur für die gesamte Schweiz, außer Bern, wo bereits ein Händler war. Aber ein paar Jahre später verlangte der launenhafte „Commendatore“, dass sich der Schweizer verpflichtete, 100 Autos abzunehmen und sie vorab zu bezahlen. Monteverdi sagte nein und entschied sich prompt, eigene Autos zu fertigen, die etwas boten, was kein Ferrari hatte: Zuverlässigkeit und Leistung eines Big-block US-V8 gepaart mit dem Komfort und Luxus einer Automatik in einem schnellen aber entspannenden Grand Tourer. Diese Konfiguration hat sich unbestritten im 375/4 High Speed bewährt. Wie dieses Auto beeindruckend beweist, beinhaltet es alles, was man von einem wahren, für mühelose Langstreckenfahrten ersonnenen Gentleman´s Express erhofft.
Der High Speed war einer der schnellsten Viertürer seiner Zeit, wenn nicht sogar tatsächlich der schnellste. Der Monteverdi 375/4 erstreckt sich über majestätische 5,3 Meter mit einer Breite von 1,8 Meter und einem stattlichen Gewicht von 1.940 Kilo. Damit wog er zwar 40 Prozent mehr als ein zeitgleicher Porsche 911, aber das hinderte den machtvollen Monteverdi nicht daran, um einiges rasanter zu sein. Glaubt man den Werks-Leistungsdaten, dann soll der Magnum V8 in knapp unter 6,9 Sekunden auf 100 Stundenkilometer beschleunigt haben und seine Spitze bei 250 Stundenkilometer erreicht haben.
Je mehr man sich in die Bilder dieser beiden Exemplare vertieft, desto mehr erschließt sich das brillant konzipierte Design. Wie mit dem Messer gezogene Winkel und Kanten und der souveräne Radstand signalisieren den Luxusanspruch, doch die Centerlock-Räder und die Lüftungsschlitze der vorderen Kotflügel deuten an, dass sich hier statt schwankender Karosse vornehme Hochleistung entfaltet. Auch der Innenraum setzt auf Widersprüche mit üppiger schwarzer Lederauskleidung, breiten, zum komfortablen Einsteigen aufschwingenden Türen und einer couchähnlichen Rückbank – wie gemacht für gemächlich dahinrollende Ausfahrten. Doch das Lenkrad im Motorsportdesign wie auch die auf sportliche Ambitionen ausgelegten Instrumente und der Inset-Schalthebel mit runden Knopf für das Dreigang-TorqueFlite-Getriebe zeigen an, das diese Limousine kompromisslos und schnell gefahren werden kann.
Gemessen am Anspruch sind der futuristische Aston Martin Lagonda und der Maserati Quattroporte die einzigen viertürigen Zeitgenossen, die exotisch und extravagant genug waren, um Monteverdis Konzept herauszufordern. Aber beide boten nicht die unerschütterliche Technik von Chryslers Powerpaket. Bleibt allenfalls als einzig realistischer Konkurrent der Mercedes-Benz 450 SEL 6,9, obwohl er dank seiner Hydraulikfederung etwas zartbesaitet war.
Aber mit einer Stückzahl von 7.000 wirkt der Mercedes im Vergleich mit dem Monteverdi 375/4 geradezu wie ein Massenauto. Und als Daily Driver des Mannes der im Alleingang der Schweiz wieder zum Renommee eines Landes schneller und aufregender Fahrzeuge verhalf, kommt diesem Exemplar eine einmalige historische Bedeutung zu. Peter Monteverdis silbernes Auto hat einen neuen Eigner gefunden, aber das schwarze Exemplare aus der Schlussphase der Produktion steht noch bei Andreas Wüest und sucht eine neuen Enthusiasten. Jemand, der auch drei willigen Passagieren den Luxus einer ausgedehnten Genussfahrt zu bieten in der Lage ist. Natürlich ein High Speed-Aficionado.
Fotos: Rémi Dargegen © 2021