Die Welt der klassischen Automobile wäre ohne den legendären New Yorker Importeur Max Hoffman deutlich weniger interessant gewesen. Ohne seine Vision hätte Porsche vielleicht keinen 356 Speedster gebaut, Dustin Hoffmans wäre in „Die Reifeprüfung” keinen Alfa Spider gefahren und die 252 Exemplare von BMWs finanziell desaströsem, aber heißbegehrtem 507 würden schlicht nicht existieren. Hoffmans vielleicht größtes Geschenk an die Menschheit war jedoch der 300SL. Jener futuristische Straßenrenner, zu dessen Bau er Mercedes-Benz ermutigte, als die wohlhabenden nordamerikanischen Sportwagenfans bereits in einem Science-Fiction-Zeitalter lebten. Mit seinen Flügeltüren, den Entlüftungsöffnungen im „Eierkarton-Look“, einem Direkteinspritz-Motor und dem flugzeugähnlichen Cockpit muss der „Flügeltürer“ bei seiner Premiere auf der New Yorker Auto Show 1954 wie ein Gast aus dem Jenseits gewirkt haben.
Das „SL“ im Namen stand ursprünglich für „Sport Leicht“ – eine Bezeichnung, die auf den leichten Rohrrahmen des Wagens verwies. Aber noch ehe ein Bruchteil der 1.400 Serienfahrzeuge verkauft worden war, hatte Mercedes-Benz-Technikchef Dr. Fritz Nallinger bereits einen Plan ausgeheckt, um den Flügeltürer noch spektakulärer zu machen: eine noch leichtere Version speziell für Privatrennfahrer. Deren hauchdünne Aluminiumkarosserie und die optionalen Seiten- und Heckscheiben aus Plexiglas trugen dazu bei, das Gesamtgewicht des Wagens um 95 Kilogramm zu reduzieren. Hinzu kamen ein straffer abgestimmtes Fahrwerk und ein leistungsstarker Motor mit Rennnockenwelle, hochverdichtetem Zylinderkopf, maßgeschneiderter Drosselklappe und neu kalibrierter Einspritzung. Das Ergebnis war ein Rennwagen mit 215 PS, der es mit den damals schnellsten Sportwagen von Aston Martin, Maserati oder Ferrari mehr als aufnehmen konnte.
Mit nur 29 gebauten Exemplaren gehört die „Leichtmetallausführung" heute zu den begehrtesten Mercedes-Modellen der Nachkriegszeit – und das hier abgebildete Exemplar ist möglicherweise das interessanteste und begehrenswerteste von allen, weshalb es am 27. Januar bei RM Sotheby's in Arizona für geschätzte sieben bis neun Millionen Dollar versteigert werden soll. In den letzten 20 Jahren sind nur eine Handvoll Leichtmetall-Flügeltürer auf dem offenen Markt aufgetaucht – und nur wenige haben eine so interessante Geschichte wie dieser, der als „African Alloy“ bekannt ist, weil er ursprünglich an den marokkanischen Benz-Vertreter und begeisterten Rennfahrer Joseph F. Weckerle aus Casablanca ging. Der Wagen wurde am 27. Mai 1955 im Werk fertiggestellt und zwei Wochen später in silbergrau metallic mit blauem Vinyl- und Gabardine-Interieur an Weckerle ausgeliefert. Bis auf die Plexiglasfenster waren alle Ausstattungsmerkmale des Alu-Modells vorhanden. Weitere Extra waren eine „Hochgeschwindigkeits-Hinterachse“, ein bis 270 km/h reichender Tacho und ein Becker-Radio.
Es überrascht nicht, dass dieser Flügeltürer der einzige Alloy 300SL war, der neu nach Afrika geliefert wurde – wenngleich seine Zeit auf dem Kontinent relativ kurz war. Denn schon 1962 fand der Wagen den Weg zu einem Besitzer in Alabama, der ihn die folgenden 13 Jahre behielt, ehe er ihn an den Sammler Jack F. Bryan aus Dallas weiterverkaufte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der SL schon ein wenig gelitten, auch wenn er nicht viel mehr abbekommen hatte wie ein Exemplar mit serienmäßiger Stahlkarosserie. Doch schon ein zu harter Druck auf die hauchdünne Legierung reicht aus, um eine Delle zu hinterlassen, während der raue Rennbetrieb unweigerlich zu noch größeren Schäden führen kann. Um diese Schönheitsfehler zu beheben, beauftragte Bryan einen der weltbesten 300SL-Spezialisten, Paul Russell aus Essex, Massachusetts, mit der umfassenden Restaurierung des African Alloy. Die Arbeit dauerte fast vier Jahre und verschlang über 172.000 US-Dollar in heutiger Währung.
Was dann aus Russells Werkstatt rollte, war ein Auto, das genauso umwerfend gut aussah wie 1955, als es in Stuttgart vom Band lief. Dazu trug zweifellos die Tatsache bei, dass die ursprüngliche Karosserie nur wenig Schaden genommen hatte und alle notwendigen Reparaturen auf den Motorraum beschränkt waren. Mit einem neuen Anstrich in werksgetreuer Lackierung, einer Neuausstaffierung des Interieurs nach Originalvorgaben und einem passenden Kofferset war der „African Alloy“ wieder fahrbereit – und der stolze Besitzer Bryan fuhr ihn die 290 Kilometer zurück in seine Heimat Texas.
Die Qualität der von Russell durchgeführten Restaurierung zeigte sich schnell in der tadellosen Performance des Wagens während der Überführungsfahrt. Schon bald sammelte er Trophäen bei Concours-Veranstaltungen – nicht zuletzt die Auszeichnung „Bester Flügeltürer“ beim nationalen Treffen der Gullwing Group 1980, die zwei Jahre später zu einem Kaufangebot von keinem Geringeren als dem Präsidenten der Gruppe, Hyatt Cheek, führte. Cheek besaß den African Alloy bis 2014. Er bestritt mit dem Auto zahlreiche Rallyes, besuchte Mercedes-Benz-Veranstaltungen in der ganzen Welt und tourte ausgiebig damit, während er einen strengen Wartungsplan einhielt.
Nun hat der derzeitige Besitzer nach acht Jahren beschlossen, diese bemerkenswerte – und verblüffend alltagstaugliche – Rarität bei RM Sotheby’s dem Höchstbietenden zum Kauf anzubieten. Zweifellos eine einmalige Gelegenheit. Aber wie die Schätzung von sieben bis neun Millionen Dollar andeutet: Leichtgewichte müssen sich für diesen Alu-Flügeltürer gar nicht erst bewerben...
Fotos: Patrick Ernzen © 2021 Courtesy of RM Sotheby’s