Gegen Mitte und Ende der 1980er Jahre arbeitete man bei Lamborghini an der Evolution des Countach mit dem Ziel, das diese Modernisierung ihn auch näher ans seinen künftigen Nachfolger rücken würde. Bekannt als der „Restyling“-Prototyp, erhielt er später den offiziellen Projekt-Codenamen „L150“. Dieses Projekt hat seinen Ursprung in 1984, als der Lamborghini-Ingenieur Giulio Alfieri mit der Idee, einen moderneren Countach zu gestalteten, herumspielte.
Alfieris Überlegungen zu einem zeitgemäßen Countach fanden ganze drei Jahre vorher statt, ehe Lamborghini mit der Entwicklung des Countach Evolution begann und auch über den Einsatz von Kohlefaser nachdachte. Was den L150 so einmalig macht, ist das Fehlen von Countach-Logos und jeglicher Identifikation, auch die Fahrgestellnummer trägt nur dieser Prototyp allein. Als hätte Lamborghini dieses Projekt als etwas betrachtet, was völlig losgelöst vom existierenden Countach war. Wo Countach-Fahrgestellnummern beispielsweise wie die Reihe ZA9CXXXXXXXXX aussahen, firmierte L150 schlicht als „Lamborghini L150“. Eines der Ziele des Restyling-Projektes galt, etliche Countach-Defizite wie fehlender Komfort, Motorkühlung und Design zu optimieren.
Zu den besonders augenscheinlichen Veränderung gehörte der Austausch der NACA-Hutzen aus dem 5000QV durch größere seitliche Lüftungsschlitze, die sich abhängig von der Temperatur öffnen und schließen ließen – ganz ähnlich der Lüftungslösung, die fast zwei Jahrzehnte später im Murcielago zum Einsatz kommen sollte. Außerdem wurden die einst manuell zu bedienenden zweiteiligen Seitenfenster durch elektrische, einteilige Fenster ersetzt. Zusätzlich wurden neue Lufthutzen hinter dem Fenster und an den Kotflügeln entworfen, um für zusätzliche Kühlung zu sorgen. Das Chassis musste ebenfalls neu ausgelegt werden, um genügend Platz für die neuen Radiatoren und die Ölkühlung zu schaffen.
Patrick Mimran, seinerzeit der neue Besitzer und CEO von Lamborghini, wünschte sich zur Beurteilung des Fahrzeugs einen fertiggestellten Prototyp. Dennoch bekam Projekt L150 nie grünes Licht für den Serienstart. Das Projekt wurde schließlich aufgegeben zu Gunsten des Lamborghini, den wir heute als Countach 25th Anniversary kennen. Der Grund für diese Unternehmensentscheidung war denkbar schlicht: Kosten. Der L150 hätte eine umfassende Neuentwicklung des Chassis in den späten Produktionsjahren des Countach erfordert – dagegen bot der 25 Anniversary die wesentliche effizientere Möglichkeit, den Countach zu aktualisieren. Und wie das in diesen Fällen so gehen kann, schenkte sich Mimran den L150 zum Abschied, als er 1987 den Posten als CEO quittierte.
Das Auto wurde dann von dem japanische Supersportwagenhändler Auto Palace für angeblich 400 Millionen Yen (umgerechnet 2,6 Millionen Dollar in 1989 und 5,3 Millionen Dollar in 2020). Der Handel bot den Prototyp mitten in der japanischen Wirtschaftsblase für eine Milliarde Yen an (umgerechnet 6,6 Millionen Dollar in 1989 und 5,3 Millionen Dollar in 2020). Minoru Miura, einer von Japans größten Autosammlern, kaufte L150 für – wie er mitteilt – 150 Millionen Yen (umgerechnet 660.000 Dollar in 1989 und bereits 13,4 Millionen Dollar in 2020). Herr Miura, der tatsächlich auch einen Lamborghini Miura sein Eigen nennt, war von Anfang an begeisterter Sammler der Marke. Sein erster Supersportwagen, damals in den siebziger Jahren erworben, war der Countach LP400. Ohne Frage schlägt sein Herz für Lamborghini und den Countach.
Vielen ist er vielleicht auch durch die Ferrari seiner Sammlung bekannt, zu denen nichts weniger als ein Enzo in Rosso Barchetta passend zu seinem in Rosso Barchetta lackierten F50 gehört sowie ein One-off-LaFerrari, ein gelber F40, ein F40 LM und ein 275 GTB. Trotz dieser beneidenswerten Kollektion ist seine Liebe zu Lamborghini ungebremst. Minoru Miura besitzt im Übrigen auch den einzigen Reventon in Japan, vermutlich das einzige Reventon-Coupé, das neu nach Asien ausgeliefert worden ist. Als sich die Möglichkeit ergab, L150 von dem japanischen Händler zu kaufen, ergriff Miura dieses einmalige Chance. Der Prototyp ist seit 1989 in seinem Besitz und er plant, ihn noch sehr lange zu behalten. Er erzählt, dass das Auto in seinem Testament aufgeführt ist: Sollte ihm etwas zustoßen, soll es zu Gunsten bedürftiger Kinder versteigert werden. Da dieses Fahrzeug ein echter Solitär ist, gibt es keinen verlässlichen Rahmen, den heutigen Wert zu bemessen. Er dürfte alles andere als geringfügig sein.
Miura hat den L150 unberührt gelassen und somit im selben Zustand, als der Prototyp das Werk 1987 verließ. Deswegen war auch keine Restaurierung notwendig geworden. Es handelt sich hier um ein veritables Sammlerstück, dass in drei Jahrzehnten nur 83 Meilen bewegt worden ist. Der Besitzer hat noch nicht einmal das Siegel vom Zigarettenanzünder entfernt. Bis zum heutigen Tag hat dieser Lamborghini beinahe sein ganzes Leben in Miuras Sammlung verbracht. Als L150 erstmals japanischen Boden berührte, hat Miura dessen Ankunft mit einigen japanischen Autozeitschriften geteilt und natürlich für Furore gesorgt. Aber seitdem gab es keine weiteren öffentlichen Auftritte.
Weil er ein echter Sammler ist, behütet Miura die Dokumentation und alle Materialien rund um den Prototyp. Es findet sich hier sogar einen unterschriebenen Brief, der seine Authentizität als echter One-off-Prototyp von Lamborghini bestätigt und eine originale, gedruckte Anzeige – ja, so lange ist das jetzt her – aus der Zeit, als Auto Palace L150 für eine Milliarde Yen anbot. Natürlich ist Minoru Miura sehr stolz darauf, dieses Auto in seiner Sammlung zu haben und betont „Nicht einmal das Lamborghini-Museum hat so ein Exemplar.“ Seit der Evoluzione zerstört worden ist, handelt es sich hier wohl um den letzten verbleibenden „Evolution“-Prototyp des Countach.
Ich kenne diesen japanischen Herrn jetzt schon seit einigen Jahren und weiß, dass er das Rampenlicht scheut. Er hat sich immer geweigert, seine Sammlung online zu stellen, aber er zeigt seine Autos gerne persönlich jenen, die seine Leidenschaft teilen. Vielleicht trieb ihn die Sorge um, dass L150 in die Tiefen der Autogeschichte zu stürzen drohte, um vergessen zu werden. Für ihn ist der Prototyp ein wesentliches Glied in der Historie von Lamborghini, vergleich mit dem Reventon als eine Art „Bindeglied „zwischen Countach und Diablo. Obwohl dieses Konzept nie in der Produktion realisiert wurde, machte es doch den Weg frei für den 25th Anniversary. Man kann nur spekulieren wie die weitere Geschichte der Marke verlaufen wäre, wenn man das Projekt L150 an Stelle des 25th Anniversary weiter verfolgt hätte. Und wie man weiß, war Horacio Pagani an letztem beteiligt.
Zur großen Freude hatte Miura L150 neben seinen 25th Anniversary Countach geparkt, was es einfach machte, sofort die Unterschiede zu entdecken – sei es das einteilige Fenster im Vergleich zur zweiteiligen Lösung im 25th Anniversary, die Platzierung des Schlosses oben auf der Tür oder zu sehen, wie das Fenster in die Karosserie eingepasst worden war, um den Luftstrom in die neu gezeichneten Luftschlitze zu verbessern sowie der Zusatz einer Antenne. Möglich auch, das Minoru Miura auch einfach das Bedürfnis hatte, über dieses Auto 30 Jahre nach dem sensationellen Kauf nachzudenken. Eine Zeit, als Japans Supercar-Szene nicht von dieser Welt war und viele dieser spektakulären One-offs und Prototypen in diesem Land eine neue Heimat fanden. Und deswegen ergibt sich für uns die Chance, noch das eine oder andere Wunder zu erleben.
Text & Fotos: Ken Saito © 2021