Jetzt kann man es ja sagen: Der Lamborghini Murciélago war sowohl ästhetisch wie ingenieurstechnisch ein brutalistisches Manifest – schnell, laut, barbarisch, aber eben nur ein besserer Diablo. Ab 2003 rollte mit dem Gallardo in Sant’Agata der erste Präzisions-Sportwagen vom Band. Ein Achtungserfolg, dessen Fahr- und Triebwerks-Architektur jedoch etwas zu deutlich die Handschrift der Entwicklungshelfer aus Ingolstadt trug. Mit dem neuen Aventador LP700-4 tritt Lamborghini nun, pünktlich zum 150. Geburtstag der italienischen Unabhängigkeit, aus dem Schatten der geldgebenden Audi AG. Hinter den Kulissen sind die Investitionen in Produktion und Entwicklung natürlich weiterhin zu spüren – doch bei der konkreten Konzeption des neuen Topmodells haben sich die Bayern geschickt im Hintergrund gehalten und von technologischen Pauschal-Transfers abgesehen. So ist der Aventador mit seinem intern entwickelten Kohlefaser-Monocoque, dem innovativen ISR-Getriebe, der Pushrod-Aufhängung und natürlich dem 700 PS starken, völlig neuen 6,5 Liter V12-Motor nicht nur der fortschrittlichste, sondern auch der eigenständigste Lamborghini seit Generationen. Und somit der ganze Stolz von Sant’Agata Bolognese.
Design-Spiele in St'Agata
Nach den harten Verlusten der Wirtschaftskrisenzeit ist die Euphorie im norditalienischen Firmensitz deutlich zu spüren. Die Produktion läuft erst seit Kurzem, gerade beginnt die Auslieferung an Händler und erste Kunden. Und die Nachfrage ist immens: Seit der Premiere auf dem Genfer Salon im März wurden mehr als 1.200 Exemplare des rund 310.000 Euro teuren Zwölfzylinder-Sportwagens bestellt. Wer jetzt unterschreibt, erhält seinen Lamborghini wohl nicht vor dem ersten Quartal 2013. Da sich auch High-Tech-Katapulte wie der Aventador zunächst über die Optik verkaufen müssen, hatte man innerhalb der VW Group zahlreiche Varianten durchgespielt – letztlich setzte sich ein Entwurf aus Sant’Agata durch, der den Proportionen des Vorgängers Murciélago treu blieb, jedoch die verschachtelten Kantigkeit des Kleinserien-Projektes Reventòn und den martialisch-kristallinen Look des Leichtbau-Prototypen Sesto Elemento stimmig in Form und Detail aufnahm.
Willkommen im Kampfjet
Wie bei allen Zwölfzylinder-Sportlern seit dem legendären Countach öffnen sich natürlich auch beim Aventador die Türen nach oben. Der Einstieg fällt jedoch so leicht wie nie, und auch die Sitzposition ist überraschend bequem für einen Kampfstier aus Sat’Agata. Selbst mit über 1,90 Metern Größe bleibt eine gewisse Kopffreiheit. Ging es im Murciélago eher spartanisch zu, wirkt das Cockpit des neuen Topmodells so hochtechnisiert und futuristisch, als wäre es einem Versuchsflugzeug des neuen Technologiepartners Boeing entliehen. In dieses Bild passt auch die signalrote Klappe auf der leicht überladenen Mittelkonsole, unter der sich die Start- und Stop-Taste verbirgt – eine Referenz an die Abschuss-Buttons moderner Kampfjets. Auch das konfigurierbare Zentraldisplay erinnert an militärische Flugsimulatoren: Je nach Einsatzgebiet kann man die gegenwärte Geschwindigkeit oder Drehzahl prominent darstellen lassen.
Viel Druck im Maschinenraum
Die eigentliche Musik spielt natürlich nicht auf der Kommandobrücke, sondern im Maschinenraum. Das intern als L539 bezeichnete 6,5 Liter V12-Triebwerk wurde komplett neu entwickelt. Mit 700 PS und 690 Nm ist der Motor stärker als das Aggregat des Murciélago LP670-4 SV, dabei aber kleiner und leichter, was einen niedrigeren Schwerpunkt und – dank kurzem Hub – selbst in höheren Gängen ein direkteres Ansprechverhalten ermöglicht. Natürlich wäre es naheliegend gewesen, im Sinne der Effizienz eine Direkteinspritzung aus Ingolstadt zu importieren, doch der Aventador sollte um jeden Preis eigenständig bleiben. Und vor allem leicht. Die mehr als 17 Liter Kraftstoff auf 100 Kilometer sind ein Preis, den man in Sant’Agata bereit ist zu bezahlen. Auch bei der Kraftübertragung hat man auf individuellen Leichtbau gesetzt und statt des allseits beliebten Doppelkupplungsgetriebes eine automatisierte manuelle Schaltbox mit besonders kurzen Schaltwegen entwickelt, die zum Performance-Konzept des Aventador passt. Das sogenannte ISR-Getriebe (ISR steht für Independent Shifting Rod) wiegt etwa die Hälfte eines Doppelkupplungs-Systems – wechselt die Gänge aber gut 140 Prozent schneller als das E-Gear-Getriebe des Gallardo.
Hart wie ein Genickschlag
Je nach Fahrmodus – die Charakter-Skala des Aventador liegt zwischen gezügelter Kraft in „Strada“, beeindruckendem Vortrieb in „Sport“ und entfesselter Gewaltbereitschaft in „Corsa“ – erfolgen die Gangwechsel kaum spürbar oder so hart wie ein professionell ausgeführter Genickschlag und mit entsprechender akustischer Untermalung. Die schmalen Landstraßen im Hinterland von Bologna sind nicht die Rennstrecken von Monza oder Mugello, dennoch wurde auch der Aventador von den Testfahrern hier bis ins Detail erprobt – und beeindruckt schon auf den ersten Kilometern mit schier unbegrenztem Vortrieb. Dank des neu entwickelten Kohlefaser-Monocoque und der Leichtbau-Karosserie wiegt das neue Topmodell trotz gewaltiger Abmessungen nur 1.575 Kilo, das Leistungsgewicht liegt bei 2,25 Kilo pro PS. Nur 2,9 Sekunden benötigt der Aventador, um aus dem Stand auf 100 km/h zu beschleunigen – ein ähnlicher Wert wie der deutlich leichtere und kompaktere McLaren MP4-12C, der momentan als zweite Sensation des Sportwagenjahres 2011 gefeiert wird. Dabei lässt sich der neue Stier aus Sant’Agata so präzise und messerscharf durch die Kurven der Emilia-Romagna steuern, wie noch kein Lamborghini zuvor. Die schiere Größe des Hecks, die den Ritt im Murciélago noch zu einem echten Abenteuer machte, ist hier schnell vergessen. Man hält spielend die Kontrolle und Blickt nach vorne – auch wenn die Vmax von 350 km/h an diesem Tag nicht ansatzweise touchiert wird.
Zwischen Vollgas und Verzögerung
Tatsächlich dürften auch Sportwagen-Rookies mit dem Aventador keine Probleme haben. Verantwortlich für den fahrdynamischen Quantensprung ist eine Kombination aus Pushrod-Fahrwerk nach Rennsport-Vorbild, permanentem Allradantrieb mit Haldex-Kupplung, die in Sekundenbruchteilen die Kraft zwischen Vorder- und Hinterrädern verteilt, und Stabilitätskontrollen neuester Generation. Was wir auf unserem mitunter recht holprigen Berg- und Talkurs vermissen, sind jedoch adaptive Dämpfer, wie sie etwa McLaren für den nächsten 800-PS-Supersportwagen plant – vielleicht kommen diese ja mit dem für 2012 vermuteten Aventador Roadster oder der nach Markenlogik mittelfristig nachfolgenden SV-Version. Eindrucksvoll dagegen ist die Kohlefaser-Keramik-Bremsanlage: Wer einmal auf freier Strecke gezielt aufs Bremspedal tritt, erfährt eine Krafteinwirkung, gegen die selbst die wildeste Beschleunigungsorgie stiefmütterlich wirkt.
Superschnell, superpräzise, superscharf
Schöner ist es dennoch, ab 4.000 Umdrehungen dem Tremolo des Zwölfzylinders zu lauschen, der mit steigenden Drehzahlen zu einem markerschütternden Donnern anschwillt. Das animalisch-nervöse Flattern und heisere Bellen seiner Vorgänger ist der Perfektionsmaschine allerdings etwas abhanden gekommen. Dafür ist der Lamborghini Aventador LP700-4 so etwas wie der Superheld unter den Supersportwagen: Superschnell, superpräzise, superscharf – oder auf Wunsch eben auch superkomfortabel und subtil. Dass Bruce Wayne alias Batman in der neuen Hollywood-Verfilmung „The Dark Knight Rises“ am Steuer eines Aventador durch Gotham City rasen wird, spricht für diese Erkenntnis – und den allgemeinen Verdacht, dass prominente Kunden bei der Auslieferung auch dieses Mal bevorzugt werden.
Text & Fotos: Jan Baedeker