Im vergangenen Jahr feierte Le Mans sein 100-jähriges Jubiläum. Wie eh und je sind die 24 Stunden mehr als nur ein Rennen – sondern in erster Linie ein Überlebenskampf. Das war auch bei der 92. Auflage am letzten Wochenende nicht anders. Ein schnelles Auto zu haben, hilft zunächst einmal nur bei der Startaufstellung am Renntag. Aber wenn die Flagge fällt und das Adrenalin abgeklungen ist, muss sich zeigen, ob die eine schnelle Runde in der Hyperpole Indiz für die auch im Rennen mögliche Rundenzeit war.
BMW M Motorsport und sein Einsatzteam WRT gingen das 24-Stunden-Rennen von Le Mans 2024 mit vier Autos an: zwei Hypercars vom Typ M Hybrid V8 und zwei M4 GT3. Entsprechend hoch waren die Erwartungen, 25 Jahre nach dem bislang einzigen Gesamtsieg mit dem von Schnitzer eingesetzten BMW V12 LMP.
Bei der Begrüßung in der eleganten, mit dem BMW M Branding geschmückten Hospitality Suite waren alle Augen sofort auf die Kunst gerichtet. Überall, wo ich mich in der Suite umsah, füllten maßstabsgetreue Modelle vergangener Art Cars die Regale, darunter ein großformatiges Modell des 20. Art Cars, das deren Schöpferin Julie Mehretu als Vorlage für das Modell in Originalgröße verwendete. Sogar ein Art Car im Maßstab 1:1 zog die Blicke aus sich – der 3.0 CSL von Alexander Calder, mit dem 1975 die Art-Car-Serie begann.
Vor dem Start unterhielt ich mich kurz mit Julie, die sich gerade darauf vorbereitete, das Auto zum ersten Mal in der Startaufstellung zu sehen. Ihre Leidenschaft war ansteckend, und obwohl sie nach eigenen Angaben weder über Le Mans noch über den Motorsport im Allgemeinen Bescheid wusste, war ihr bewusst, ab nun in den Geschichtsbüchern in einem Atemzug mit Kunst-Titanen wie Warhol, Calder, Lichtenstein, Koons, Holzer und Co. zu stehen. „Sollte das Auto das Rennen beenden, wird es ein ganz anderes Kunstwerk sein”, erklärte Julie. „Der Dreck, die Schrammen, die Insekten – ich bin nur diejenige, die die erste Farbschicht aufträgt!”
Wie üblich in Le Mans durfte ich vor dem Start um 16 Uhr mit Tausenden von anderen auf die heilige Start-Ziel-Gerade, um eine wirklich unvergesslichen Atmosphäre zu genießen. Die schiere Masse an Menschen machte es fast unmöglich, zu den Autos vorzudringen. Schließlich fand ich, wonach ich gesucht hatte: das Art Car mit der Startnummer 20, das ich nun zum ersten Mal in seiner ganzen Pracht sah. Die Energie, die das Hypercar umgab, war elektrisierend. Ein würdiger Nachfolger der sechs Art Cars, die seit 1975 hier ebenfalls als rollende Kunstwerke auf den Start gewartet hatten. Während ich die Atmosphäre aufsog, wurde mir bewusst, welche Aufgabe auf die Fahrer wartete: genau die Linie überqueren, auf der ich gerade stand, über 300 Mal in 24 Stunden, mit einem Schnitt von über 230 km/h...
Gleich in der ersten Stunde ging es in der stark besetzten Hypercar-Klasse zur Sache. Nie zuvor sah Le Mans in seiner Top-Kategorie eine solche Markenvielfalt: Cadillac, Toyota, Porsche, Peugeot, BMW M, Lamborghini, der Fan-Favorit Alpine, Isotta-Fraschini und vor allem der Sieger des 100-Jahre-Jubiläumsrennens, Ferrari, wollten gleich im ersten Stint Dominanz unter Beweis zu stellen. Der von Startplatz sechs gestartete BMW M V8 Hybrid im traditionellen BMW M Streifendesign fiel nach nur 34 Minuten und einem Dreher von Marco Wittmann mit Kontakt an den Leitplanken zurück. Nach einem kurzen Check ging es aber zunächst weiter. An der Spitze glich das Langstreckenrennen schon in der Anfangsphase eher einem Sprintrennen. Ferrari, Porsche und Toyota wechselten scheinbar jede Runde die Positionen, mit Cadillac immer in Schlagdistanz.
Die Dunkelheit in Le Mans zu erleben, war für mich als Neuling haarsträubend. Wenn die Dämmerung einsetzt, haben sich die Sinne an das allgegenwärtige Motorengeräusch gewöhnt – nur das V8-Donnern des Cadillac dringt nicht aus den Gehörgängen. Längst war da das BMW Art Car nach einem heftigen Einschlag von Robin Frijns in die Reifenstapel der Ford-Schikane bereits aus den Spitzenrängen gefallen. Noch schlimmer kam es dann aber für das Schwesterauto. Nach 6 Stunden und 35 Minuten Renndauer touchierte der Ferrari 499P von Robert Kubica beim Überrunden eines Porsche GT3 den zu diesem Zeitpunkt von Dries Vanthoor gesteuerten BMW und schickte ihn bei Tempo 300 in die Leitplanken. Zum Glück blieb der Belgier bis auf eine leichte Gehirnerschütterung unverletzt, aber das Rennen war für das Fahrzeug, das nach Wittmanns frühem Dreher wieder auf dem Vormarsch in die Top-10 war, definitiv beendet.
Während sich der Kampf der Hypercars weiter aufheizte, ging es auch in der LMGT3-Klasse für BMW gegen die Konkurrenz von McLaren und Porsche voll zur Sache. Zumal die Münchener hier ja noch zwei Asse im Ärmel hatten. Natürlich galten auch hier die Gesetze von Le Mans, wie Andreas Roos, Leiter BMW Motorsport, betonte: „Zu einem Erfolg in Le Mans braucht man neben Geschwindigkeit, Entschlossenheit und Teamwork vor allem auch etwas Glück!“ Von den beiden M4 LM GT3 war die Startnummer 46, gefahren von Motorrad-Star Valentino Rossi, Maxime Martin und Ahmad Al Harthy, auf dem besten Weg zu einem Top-Resultat. Bis bis der osmanische Pilot in der Nacht auf Slicks und feuchter Fahrbahn in die Streckenbegrenzung krachte.
Nachdem zwei Autos ausgefallen waren und eines (das Art Car) in der Garage stand, ruhten nun allen BMW-Hoffnungen auf dem BMW M4 mit Startnummer 31. Augusto Farfus, Sean Gelael und Darren Leung lieferten eine fehlerfreie Fahrt ab und holten das erste BMW Podium in Le Mans seit 13 Jahren – mit nur einer Runde Rückstand auf den siegreichen Porsche.
Am Ende aber freuten sich aber vor allem die Fans. Die 319.000 – fast so viele wie die gesamte Bevölkerung von Island! – hatten scheinbar alles an Ausrüstung und Vorräten mitgebracht, was man für die vollen 24 Stunden und die Tage zuvor so braucht. Sie sahen nach Meinung vieler eines der besten Rennen in der 101-jährigen Geschichte von Le Mans. Die intensiven Kämpfe in allen Klassen, vor allem bei den Hypercars, hielten die Zuschauer gefühlt die gesamten 24 Stunden in Atem, wobei die ständig wechselnden Wetterbedingungen die Dramatik mit jeder Stunde wieder auf eine andere Ebene brachten.
Und was wurde aus dem Art Car? Es ging nach langwierigen Reparaturen kurz vor Schluss noch einmal auf die Strecke, wurde aber aufgrund der zurückgelegten Distanz nicht gewertet. Auch wenn das sportlich erhoffte Ergebnis nicht zustande kam, war Julie Mehretus Kreation – als „performative Kunst“ deklariert – ein Meilenstein der BMW Art Car Serie.
Fotos: Elliot Newton