Er gibt zahlreiche, in der Mehrheit moderne Schätze in den Ausstellungsräumen von Joe Macari Performance Cars. Doch ein babyblauer, linksgelenkter Ferrari 275 GTS ragt unter allen anderen heraus. Sein V12 wärmt das Herz des Ferraristo, mit seiner schon im Leerlauf für Gänsehaut-Feeling sorgenden Komposition aus drei Weber Doppel-Vergasern und vier hochglanzpolierten Auspuffenden.
Jahreszeiten wechseln, Klassiker bleiben
Wir starten zu einer morgendlichen Ausfahrt durch den Südwesten von London. Um zu demonstrieren, dass klassische Roadster mit den ersten vom Baum fallenden Blättern noch nicht in den Winterschlaf gehören. Im Gegenteil liegt für uns ein gewisser Reiz darin, in den nun wertvoller werdenden Stunden Tageslicht eine Frischluftdusche zu nehmen. Gut eingepackt den schattigen Temperaturen trotzen, und sei es nur für eine inspirierende Stunde hinter dem Lenkrad.
Ein Großteil der 200 bei Pininfarina entworfenen und zwischen 1964 und 1966 produzierten 275 GTS gingen – wie auch unser Fotomodell – zunächst über den großen Teich. Kein Wunder angesichts des damaligen Hungers der Amerikaner nach offenen Grand Tourern. Trotz des im Vergleich zur weicher gezeichneten Berlinetta stark abweichenden Designs wurde der Offen-Typ parallel zum Coupé auf dem Pariser Salon von 1964 vorgestellt. Mechanisch eng verwandt und auf Basis der identischen Plattform.
Schwesterliebe
Egal ob Sie nun dem Coupé mehr abgewinnen können als dem offenen Schwestermodell – der Ferrari 275 GTS gilt völlig zu Recht als eines der schönsten jemals entworfenen Cabriolets. Und da überrascht es uns nicht, dass die in der morgendlichen Sonne flimmernde Skulptur in Azzurro Metallizzato die Aufmerksamkeit nahezu jedes Spaziergängers weckt. Mancher hält mitten im Gang an, um dem Auto einen bewundernden Blick hinterher zu werfen.
Sehr italienisches Interieur
Das vom großen Nardi-Holzlenkrad und den zwei großen Veglia Borletti-Runduhren dominierte Interieur des 275 GTS ist ein Fest. Dazu noch bemerkenswert geräumig, zu einem gerüttelten Maß auch dank des ersten Fünfgang-Transaxle-Getriebes in einem Ferrari. Die ganz frühen Exemplare boten sogar Platz für drei Personen. Tief eingesunken in den mit Connolly-Leder dick aufgepolsterten Sitzen sind wir halbwegs gut vom beißenden Wind geschützt – und wollen jede Sekunde dieses außergewöhnlichen Erlebnisses auskosten.
Schon nach den ersten zaghaften Metern auf der (gottlob) recht freien Straße wird die Bissigkeit des 275 deutlich. Der mit 260 PS angegebene Colombo-3,3-Liter-V12 mag eine leicht entschärfte Version des GTB-Aggregats sein, doch mangelt es ihm keineswegs an Kraft und akustischem Charisma. Ein kleiner Gasstoß unter einer Eisenbahnbrücke bietet die Chance, dem Lied des Ferrari zu lauschen. Wenn die drei Weber die Ansaugluft verschlingen, entsteht eine geradezu ekstatische Symphonie. Weitaus aggressiver, als die nach außen so geschmeidige Erscheinung vermuten ließe.
Ein Freund fürs Leben
Während sich der Ferrari knisternd im Stand abkühlt und wir einen Doppio Espresso schlürfen, können wir uns dem Charme und den verführerischen Formen des 275 nicht entziehen. Natürlich würde ein Sommer mit einem solchen Modell im Süden Frankreichs ein Quell ständiger Freude sein – und ja, der 275 GTS verkörpert das dolce vita zu 100 Prozent. Doch erscheint es fast noch reizvoller, diesen Grand Tourer zu Zeiten einzusetzen, die man normalerweise nicht vermuten würde. Schließlich gilt noch immer: Ein klassisches Cabriolet ist ein Freund fürs Leben, nicht nur für die Sommer. Also gehen Sie vor die Tür – und genießen Sie die nächsten Monate im Offenfahr-Modus.....
Fotos: Tom Horna / Autohouse London für Classic Driver © 2016