Der Bugatti EB110 ist ein polarisierendes Auto: Für das Massenpublikum nicht auf Anhieb attraktiv, aber gerade wegen seiner speziellen Ausstrahlung für Feinschmecker so begehrenswert. Abseits solcher Urteile steht der adelige Status des EB110 aber unzweifelhaft fest: ein echtes Vollblut, authentisch wie ikonisch, automobile Exzentrik vom Feinsten. Im Gegensatz zu anderen Supersportwagen aus jener Zeit ist der Bugatti EB110 wunderschön gealtert, gewinnt sogar wie ein guter Wein mit zunehmendem Alter an Klasse. Denn der EB110 verkörpert eher Industrie- denn Automobildesign und überdauert mit seiner klaren und puristischen Formensprache kurzlebige Trends und Moden.
Es ist ein Sportwagen mit einer generationsübergreifenden Technologie, und das in einem verblüffend kompakten Paket: Kohlefaser-Chassis, Allradantrieb und vier IHI-Turbolader – drei bis heute zur DNA eines jeden modernen Bugatti gehörende Features – in Kombination mit einem V12-Motor mit fünf Ventilen pro Zylinder (macht insgesamt 60) und Stirnradantrieb sowie einem in einem gemeinsamen Block gegossenen Sechsgang-Getriebe. Der EB110 war nicht nur in Bezug auf seine Produktion revolutionär, er erzielte damals auch vier Geschwindigkeitsweltrekorde – einer blieb fast zwei Jahrzehnte bestehen.
2021 markiert das 30-jährige Jubiläum des Bugatti EB110. Während der aktuelle Besitzer der Marke die Gelegenheit für eine Feier verpasste, blieb es dem – und denken Sie bitte mal eine Minute darüber nach – damaligen Hausmeister der La Fabbrica Blu, der berühmten ‚blauen Fabrik‘, in dem der EB110 produziert wurde, und dessen Sohn vorbehalten, einen Event zu organisieren, der dem eines OEMs um nichts nachstehen sollte. Indem Ezio und Enrico Pavesi es als ihre selbstlose Pflicht empfanden, die Fahne hochzuhalten, luden sie alle weltweiten Bugatti EB110-Besitzer zu einem Familientreffen in Campogalliano ein. Um zusammen mit früheren Angestellten und Freunden den automobilen Meilenstein Bugatti EB110 zu feiern.
Der ursprüngliche Plan sah vor, 30 Besitzer zu einer Teilnahme zu gewinnen – 30 Autos für die 30 Jahre! Ein Ziel, das sich bald als zu ambitioniert erwies, hätte es doch 25 Prozent der Gesamtproduktion bedeutet. Am Ende spielte das dann aber keine Rolle. Wie Kerzen auf einer Geburtstagstorte schwangen die Flügeltüren von einem Dutzend EB110 auf, um Romano Artioli und den anderen an diesem Tag anwesenden Protagonisten – darunter Giampaolo Benedini und Loris Bicocchi – ihre Ehre zu erweisen. Hinter einer Polizeieskorte zog eine Parade durch die Straßen der rund 8700 Einwohner kleinen Gemeinde Campogalliano nordwestlich von Modena, in deren Verlauf im Ortszentrum eine Gedenktafel („Campogalliano, Città della Bugatti EB110“) enthüllt wurde. Mit einem stolz davor posierenden Romano Artioli.
Zur 30-jährigen Jubiläumsfeier kamen viele der bedeutendsten EB110-Exemplare in die Emilia-Romagna. Allen voran die beiden letzten Werksrennwagen der Marke Bugatti, der EB110 LM und der EB110 SC, sowie der 1991 in Paris von Renate Kettmeir und Alain Delon enthüllte originale Produktionsprototyp – der 15 Jahre vor dem Bugatti Veyron das Comeback der legendären Molsheimer Marke begründete. Bei der vor der Fabbrica Blu aufgefahrenen EB110-Abordnung ging Qualität vor Quantität. Und die stolze Bürgermeisterin von Campogalliano, Paola Guerzoni, war nach einer Fahrt im Bugatti-Rennwagen für Le Mans 1994 sichtbar überwältigt von den Emotionen.
Es war ein faszinierender Moment mitzuerleben und vielleicht der bestmögliche Trostpreis für alle, die nicht bei der ursprünglichen Enthüllung des Bugatti EB110 dabei sein konnten. Man wundert sich über die Kraft der Bugatti-Flamme, die Anfang der 1990er Jahre so hell leuchtete, und drei Jahrzehnte später immer noch lodert. Wird die Marke unter neuer Eigentümerschaft in der Lage sein, das Feuer für eine weitere Generation von Mitarbeitern neu zu entfachen? Werden sie drei Jahrzehnte später die gleiche Hingabe für ihren Präsidenten und ihr Produkt zeigen? Der Bugatti EB110 ist ein besonderes Automobil, aber noch besonderer sind es die Männer und Frauen, die ihn erschaffen haben.
Text: Chris Hrabalek Fotos: Rémi Dargegen for Classic Driver © 2021