Die Grafschaft Kent gilt als der „Garten Englands”. Die sanfte Hügellandschaft mit ihren fruchtbaren Böden, den märchenhaften Wäldern und malerischen Küsten lädt zu Ruhe und Einkehr ein. Aber nicht heute.
Wir sind mit zwei röhrenden und schnaubenden Lamborghini unterwegs nach Dungeness, einer kargen Küstenebene, die eher an einen Drehort für „Max Max” oder einen Western erinnert. Unsere Protagonisten sind ein makelloser roter Countach 25th Anniversary, innen mit Leder in Magnolia ausgekleidet, und ein Diablo, dessen 65.000 Meilen auf der Uhr einiges von seinem weniger beschaulichen Leben erzählen könnten. Um Ihnen eine Vorstellung von der Art, wie wir in dieser beschaulichen Ruhe auftauchten zu geben, nur so viel: Der von seinem Katalysator befreite 5,7-Liter-V8 des Diablo löst im ganzen Umkreis die Autoalarmanlagen aus. Diese Kakophonie führt im Lauf des Tages auch noch dazu, dass ein besorgter Bürger bei der Polizei anrufen wird.
Die Einladung, diesen beiden wutschnaubenden Stieren einen Auslauf an einem knusprigen aber perfekt sonnigen Wintertag zu gönnen, kam vom Supercar-Spezialisten Simon Furlonger. Zunächst bekannt als Händler für Ferrari, bietet das Unternehmen aus Ashford inzwischen hochwertigen Service und Pflege sowie die Restaurierung klassischer Lamborghini-Modelle an, vom 350 GT bis zum Murciélago. Der Diablo mit dem wir gerade das ländliche Kent unsicher machen ist ein sehr frühes Exemplar, das als eines der ersten nach Großbritannien exportiert worden war und befindet sich seit zehn Jahren im Stall Furlongers. Beim Countach wiederum handelt es sich um eines der letzten zehn Exemplare, die das Werk verließen und von Furlonger 2019 an den aktuellen Besitzer verkauft wurde. Diese zwei dramatisch unterschiedlichen Lamborghini verließen folglich nur Monate von einander getrennt das Werk.
Der Ruf des Countach eilt ihm natürlich voraus. Aber bei allem Übermut des Designs, fällt uns beim 25th Anniversary auf, wie verfeinert, geradezu höflich er sich gibt - niemand könnte bestreiten, wie leise und komfortabel er ist. Eigentlich nicht überraschend, denn Lamborghini hatte 17 Jahre Zeit, um alle Tücken des Autos für dieses abschließende Special zu korrigieren. Das Modell wurde ja von den Managern bei Chrysler nach Übernahme der Marke ersonnen, weil der neue Diablo nicht rechtzeitig zum 25. Jubiläum bereit sein würde.
Erstaunlich, dass dieses Auto aus Gandinis minimalistischem LP 400 entwickelt worden ist. Was nicht bedeutet, dass es nicht ebenso schön ist. Der großzügige Zusatz der kiemenartigen Strakes wurden von dem jungen Horacio Pagani gezeichnet, zum Missfallen der Lamborghini-Gemeinde, die in diesem Styling eine Kopie des Ferrari Testarossa befürchteten. Aber heute verkörpert diese Optik die ganze Dramatik eines wütenden Stiers, die ihn zum Pin-up unzähliger Teenagerzimmer werden ließ. Er tritt stolz und herausfordernd als wahrhafter Lamborghini auf und ist ein durch und durch so achtziger Jahre. Pagani war auch der Urheber der diversen Karbonfaser-Komponenten, die sich über den Supersportwagen verteilen wie beispielsweise die Motorabdeckung. Rallyelegende Sandro Munari wurde beauftragt, das Fahrwerk neu zu konfigurieren.
Nur 667 Countach 25th Anniversary erblickten in Sant´Agata das Licht der Welt, und „unser” rechts lenkendes Exemplar wurde als eines der finalen zehn gebaut. Damit dürfte er vermutlich der beste und ursprünglichste Countach in Großbritannien, wenn nicht sogar in Ganz Europa, sein. Er wurde 1989 neu an einen Autohändler ausgeliefert, der zufällig Lamborghinis Verkaufschef beim Skifahren in Italien kennengelernt und diesen davon überzeugt hatte, ihm einen Countach zu verkaufen.
Und weil ein Autohändler nicht anders kann, als ein Autohändler zu sein, hat er den Lamborghini kaum sechs Monate später verkauft! Auf Grund von Umständen konnte der zweite Besitzer seinen geliebten Lamborghini nicht selbst fahren - und so parkte das Auto 27 Jahre lang in seiner Garage in Essex. Nur der Sohn des Eigners bewegte es von Zeit zu Zeit zur technischen Kontrolle. Mit weniger als 7.000 Kilometer auf der Uhr steht die Ursprünglichkeit dieses Lamborghini außer Frage. „Wir haben über die Jahre mit etlichen Countach gehandelt, aber einem wie diesem bin ich noch nie begegnet”, schwärmt Furlongers Verkaufsleiter Matthew Honeysett. „Da gibt es einfach keine Fragen und Geschichten.”
Der aktuelle Besitzer zeigt uns voller Stolz die vielen Ausstattungsstücke und Accessoires, die wie durch ein Wunder beim Auto verblieben sind wie die originale Pelerine von Portman Lamborghini, damals der einzige britische Vertragshändler, das europäische Serviceheft, Bedienungsanleitung und Garantieschein für das Alpine-Stereosystem und die Korrespondenz zwischen erstem Besitzer, Händler und Werk. Pedale und Sockelbleche tragen sogar noch die originale Werksschutzschicht. „So etwas findet man heute einfach nicht mehr”, sagt Honeysett. „Es ist klar, weshalb dieses Auto bereits Pokale beim Salon Privé und dem Lamborghini Polo Storico-Concours letztes Jahr in Triest gewonnen hat.”
Der Diablo - Teufel auf Spanisch - ist dagegen ein ganz anders geartetes Biest. Als vermutlich eines der ersten 20 Modelle, die nach Großbritannien ausgeliefert wurden, hat er bislang eine recht lebhafte Karriere erlebt. Besonders faszinierend in seiner Historie ist wohl eine Begebenheit: Als es einmal ein gravierendes Problem mit dem Motor und auch keinen Ersatz von einem Spender-Lamborghini gab, stellte der Besitzer das Fahrzeug in seiner Viola Metallic-Pracht in seiner neuen Dentalklinik aus. Wer hätte da nicht einer Zahnarztbehandlung mit Freuden entgegengesehen? „Das Auto kam vor etwa zehn Jahren zu uns, dann haben wir den Motor komplett neu aufgebaut und wieder mit seiner originalen Motorabdeckung vereint sowie mit dem hohen Flügel”, erzählt Honeysett. „Seitdem wurde er heiß und innig geliebt und er war auf unzähligen europäischen Straßen unterwegs - oftmals wie ein großer V12-Gokart.”
Von Marcello Gandini begonnen und von dem Chrysler-Komitee abgeschlossen, ist der Diablo nichts weniger als das Supercar schlechthin der neunziger Jahre. Er ist geradezu riesig - sein unverschämt ausgreifendes Heckdesign wirkt auf schmalen britischen Landstraßen so deplatziert, dass man schmunzeln muss. Aber dennoch: Was für ein Auftritt!
Die Dachlinie von der Nase bis zum Heckabschluss beschreibt einen perfekten Bogenschwung, der nicht nur meisterlich gezeichnet wurde, sondern auch die großzügig bemessene Glasfläche betont - zusätzliches Volumen, das man nach einem Aufenthalt im Countach zu schätzen weiß. Übrigens, man muss nicht auf der Türschwelle kauern, um den Diablo im Rückwärtsgang zu bewegen. Obwohl es schon cool aussieht. Dieser Lamborghini ist aufreizend unverschämt laut. Wiewohl urtümlich und spartanisch in der Anmutung, spielt die Ergonomie der Kabine im Vergleich zum Countach in einer anderen Liga. Die berühmte, wie eine Klippe geformte Armaturentafel hat tatsächlich eine ganz eigensinnige, faszinierende Optik.
Obwohl sich diese beiden V12-Kampfstiere aus den Regalen von Lamborghini nur die Steuerkette und ein paar Gangschalter-Komponenten teilen, ist die Manier ihrer Performance bemerkenswert ähnlich. Sie hautnah zu erleben ist Achtung einflössend, aber das ganze Drama ihres Auftritts und die überwältigende Leistung, die sie auf die Straße als ihre ureigene Arena bringen, ist jede Minute der hoch konzentrierten Arbeit, um sie im Zaum zu halten, wert. Für die Einwohner von Dungeness blieb unsere Präsenz rätselhaft. Der Gesichtsausdruck der Passanten changierte von rot anlaufender Wut bis hin zu echter Verwirrung - als wären gerade Aliens im beschaulichen Kent gelandet. Wir fühlen uns ein wenig frech und ungezogen. Aber wir haben die wahre, mitreißende Ursprünglichkeit von Lamborghini erfahren.
Fotos: Tom Shaxson für Classic Driver © 2020