Worüber sollten wir uns bei Ausfahrten mit unseren wohl behüteten Klassikern sorgen? Das war die zentrale Frage, die sich Jonathan Ward, Gründer der kalifornischen Individualisierungsfirma Icon, in der Anfangszeit seiner eigenen Automobilgeschichte mehr als nur einmal stellte. „Ich fürchtete mich vor dem ersten Kratzer oder der ersten Delle in der Parkbucht und wäre am Ende beinahe nur noch auf Zehenspitzen um mein Auto herumgetippelt“, erinnert er sich. „Dieses Gefühl beeinflusste meinen Umgang mit den Autos auf negative Weise. Was nicht sein sollte, denn am Ende des Tages sind sie funktionsfähige Skulpturen, die viel bewegt werden wollen.“ Konsequenterweise sieht Ward auch wenig Sinn darin, alte Autos bis zur letzten Schraube zu restaurieren. Einen 70 Jahre alten Wagen mechanisch nach Werksstandards zu restaurieren, hält er schlicht für überholt. „Mir wurde bewusst, dass ich keine Geduld für archaisch anmutende mechanische Experimente hatte“, gibt er zu. „Vielmehr liebe ich die Perversionen moderner Modelle, ihre zahlreichen Funktionen, die Sicherheits- und Komfortfeatures bis hin zu den Abgasstandards.“
Mit dieser Philosophie und befreit von den Fesseln dessen, was bis dahin in der Szene als „korrekt“ betrachtet wurde, machte sich Ward an sein allererstes Icon-Modell – einen ziemlich verlotterten 1952er DeSoto Station Wagon, den er bis heute in Ehren hält und auch noch regelmäßig bewegt. „Ich wollte ein Auto, um das ich mir keinen Kopf machen musste – mit dem ich genauso zum Flohmarkt wie zum Spaziergang mit meinen Hunden fahren oder die Kinder zum Skatepark bringen kann. Das perfekte Vehikel für mich!“ Vor dem Hintergrund des während des letzten Jahrzehnts boomenden Marktes für klassische Automobile war es unvermeidlich, dass immer mehr Leute auf Wards Arbeit aufmerksam wurden und seine Philosophie hinter dieser speziellen Art des Customizing verstanden. Als Folge begann er, diese ultra-patinierten Klassiker zum Verkauf anzubieten, die – und das ist ihr Geheimnis – unter der alten Haut geschickt moderne Technologie verbergen.
Als Beispiel dient dieser ziemlich angegraute Rolls-Royce Silver Cloud aus dem Jahr 1958. Ward schwebte schon immer vor, solch einen „Derelict Rolls“ zu bauen. Weil er schon selbst einmal einen Silver Cloud besessen hatte und er das Weltbild mancher Puristen ins Wanken bringen wollte. Man stelle sich seine Freude vor, als ihn ein australischer Besitzer bat, einen Rolls-Royce zu bauen, mit dem er die traditionellen Clubmeetings seines Bruders in Aufruhr versetzen könnte. „Es ist so, als würden alle Smoking tragen, und dann kommt ein Typ in einem Kilt ohne Unterwäsche“, scherzt Ward. Er und sein Kunde fanden einen Silver Cloud mit einer ikonischen Vorgeschichte – er gehörte ursprünglich einer amerikanischen Kosmetikfirma, die den Rolls-Royce benutzte, um damit Kunden zu beeindrucken. Am Ende wurde das Auto dem CEO als Geschenk zur Pensionierung überreicht. „Wegen eines trivialen elektrischen Defekts lagerte er das Auto aber schon bald ein und so blieb es jahrzehntelang vernachlässigt stehen.“
Der Silver Cloud wird nun von einem Chevrolet LS7 V8 angetrieben, hat eine vordere Einzelradaufhängung, dicke Brembo-Bremsen, eine Zahnstangenlenkung und Komfortfeatures wie Navigationssystem, Klimaanlage und Cruise Control – letztere zu steuern über in einem neu geformten Armaturenbrett aus Holz eingelassene Rolls Royce-Drehregler mit originalgetreuer Beschriftung. „Das Auto fährt sich einfach phantastisch“, schwärmt Ward. „Wenn es mit 150 km/h vorbeibraust, verdrehen die Leute den Kopf. Performance und Geräusch beißen sich mit der Optik, doch ist es gerade dieser Gegensatz, der mir so viel Spaß bereitet. Zumal es die Leute zum Lächeln bringt. Ein Silver Cloud im Concours-Zustand hingegen provoziert viele Vorurteile.“ Die in das Fahrzeug eingeflossene Handarbeitskunst ist tatsächlich bemerkenswert. Es ist eine beachtliche Leistung, unter einer so unperfekten Verpackung die Funktionalität, Nutzerfreundlichkeit und Zuverlässigkeit eines modernen Automobils unterzubringen.
„Diese Derelict-Modelle sind ein alternativer Weg, klassisches Transportation Design in einen modernen Kontext zu setzen“, fasst Jonathan zusammen. „Manche Leute verstehen den Ansatz, viele jedoch nicht. Sie fragen: ‚Warum soll ich so viel Geld ausgeben für etwas, dass so miserabel aussieht?’ Doch wenn Du solch ein Auto erst einmal fährst, entsteht eine völlig neue Form der Interaktion – Du streifst all den sozialen Ballast ab und hörst damit auf, auf Zehenspitzen um das Auto herumzuschleichen!“
Wir fragen uns, welches Modell wohl als Nächstes ein Derelict Tuning erhalten wird – vielleicht ein Hispano-Suiza oder ein Duesenberg? Warum nicht, zur Hölle!
Fotos: Alex Lawrence / The Whitewall für Classic Driver © 2018