Der Kondor ist bekannt für seine Anmut, sein majestätisches Segeln und seine Standortreue. Doch gilt der große Geier aufgrund menschlicher Verfolgung als gefährdet. Ein Status, der auch auf diesen imposanten Schwarm von Aston Martins zutrifft – allesamt seltene Vögel. Ja, es sind besondere Autos und sie könnten zweifellos schon heute in den Status eines automobilen Weltkulturerbes erhoben werden. Man zögert (noch), sie als ein gutes Investment anzupreisen, zumal diese Modelle lange Zeit noch recht preisgünstig zu erwerben waren. Doch hat sich der Trend längst umgekehrt, und es ist schnell ersichtlich, warum ihre Anhängerschaft stetig zunimmt. Schließlich handelt es sich um die letzten komplett per Hand in Newport Pagnell gebauten Aston Martin. Und damit um die letzten legitimen Nachfolger im Geist der frühesten Kreationen von Lionel Martin – einem der beiden Gründer und Namensgeber der Marke. Seltenheit und Handarbeit sind aber nur zwei Charaktereigenschaften, die den Aston Martin Virage und seine Nachfolger, den Aston Martin V8, ausmachen. Was wir wirklich wissen wollen ist vielmehr, wo diese erhaltungswürdigen Preziosen in 20 Jahren stehen werden?
Steigt man zum ersten Mal in die Aston Martin Virage Volante von 1992, einem von nur 234 gebauten Cabriolets, ist der einzigartige Flair sofort spürbar: Das elegante Interieur in cremefarbenem Connnolly-Leder atmet Klasse und deutet bereits die unangestrengte Lässigkeit des vor uns liegenden Fahrerlebnisses an. In einem offenen Reisewagen sind Nackenmuskeln knetende Querbeschleunigungskräfte natürlich weniger gefragt – niemand will schließlich sein sorgfältig zurechtgeföhntes Haar bei der Fahrt zur Gartenparty zerzaust wissen. Die Dreistufen-Automatik bildet zusammen mit dem 330 PS starken V8-Motor eine bewährte Formel und verleiht dem Auto einen respektablen Durchzug. In diesem Aston eilt man nicht – hier kann man die Reise genauso genießen wie die Fahrt an sich. Die Aston Martin Virage Volante ist ein Grand Tourer alter Schule, der die ganze Gefühlswelt der Marke dieser Epoche verkörpert: Wenig Drama, doch massig und stilvoll zur Schau gestelltes Understatement.
Steigt man von der Volante in den Aston Martin Vantage V600 aus dem Jahr 2000 um, dann ähnelt das dem fliegenden Wechsel von einem Chesterfield-Sofa auf einen Magistretti-Stuhl. Zwar ist das noch immer ein Autositz, doch wurde er in einem völlig anderen Umfeld installiert. Dieser in Racing Green getünchte Linkslenker strahlt mit jeder Pore seine Absprungbereitschaft aus. Man sieht es an seinen Armaturen, am Knüppel für das Handschaltgetriebe und den Recaro-Sitzen, die gute Führung bieten, ohne einzuzwängen. Die Kupplung ist leicht, und man kann mit niedrigen Drehzahlen sogar einfach nur cruisen. Doch wehe, man lässt ihn von der Leine und erweckt die beiden Easton-Kompressoren zum Leben. Dann kehrt der V600 seine herkulische Seite heraus. Die Zwangsbeatmung erfolgt progressiv, aber kraftvoll – und bringt alle 600 PS auf Trab.
Beim Durchtreten des Gaspedals bis zum Anschlag heißt es, höchst aufmerksam zu bleiben. Denn das Auto ist extrem schnell, doch entwickelt es sein Tempo mit einer Erhabenheit, an die kaum ein anderes Modell heranreicht. Auf der Straße strahlt es Autorität und Präsenz aus – so sehr, dass der Verkehr fast automatisch Platz macht. Mir fällt kein anderer Sportwagen aus dieser Ära ein, der auch in punkto Schönheit an diesen größten unter den Grand Tourern heranreicht. Die galaktischen 813 Newtonmeter Drehmoment machen es möglich, den ganzen Tag lang im obersten Gang zu fahren – wenn rohe Muskeln walten. Zu seinen Glanzzeiten beschrieb man die ultimative Spielart der Baureihe oft als „brutal”. Doch in Wahrheit ist der V600 ein Wunder der Physik, Isaac Newton hätte er gefallen. Schnelles Crosscountry-Fahren wird erleichtert durch die hintere De Dion-Achse, eine deutliche Verbesserung gegenüber der A-Frame-Konstruktion des Virage. Dies ist der kräftigste Aston Martin von allen. Und nur 240 Mal gebaut, verdient er sich jeden Zoll Respekt, den er einfordert.
Wie der Aston Martin V600 hat auch der V550 Vantage von 1995 trotz seiner Wurzeln den Zusatz Virage abgelegt. Doch ist der mit Steroiden voll gestopfte Vantage auch kaum vergleichbar mit dem vornehmeren Ahnen. Der V550 erschien 1993 und ähnelt dem V600 sehr. Doch während der 600er noch über ein weitgespreiztes Fünfganggetriebe verfügte, spendierte Aston dem V550 eine flüssig schaltbare und eng abgestufte Sechsgang-Box. Viele wurden im Werk auf V600-Spezifikation hochgerüstet. Aber ganz ehrlich: Hätte ich nicht gerade erst den noch kräftigeren V600 gefahren, wäre mir das Powerdefizit im unteren Drehzahlbereich nicht aufgefallen. Ansonsten macht der V550 fast alles so gut wie der V600, auch seine massig zur Verfügung stehende Leistung verlangt die volle Aufmerksamkeit des Fahrers. Ein Auto, das Ihren Tag garantiert erhellt.
Ehe die aufgeladenen Vantage Modelle die Bühne betraten, erhielt der Virage noch ein Motoren-Upgrade. Mit 6,3 Liter wuchs der Hubraum um einen runden Liter, zugleich nahm die Leistung um fast 50 Prozent zu – ja, Sie lesen richtig. Die letzten 6,3 Liter-Motoren schickten dank Technologietransfers aus dem AMR-Rennprogramm rund 500 PS auf den Asphalt. Der erhöhten Leistung angepasst wurden Bremsen und Fahrwerk, dazu gab es größere Felgen unter noch stärker ausgestellten Radkästen. Diese „Autos mit Hüften”, wie es damals der schillernde Aston-Chef und Markenretter Victor Gauntlett beschrieb, betören mit diesem wunderbar unverfälschten V8-Grollen. Für mich ist der Motor dieses Autos (für seinen königlichen Besitzer 1999 nochmals feingetunt) die ultimative Evolution des auf die Konstruktion von Tadek Marek zurückgehenden V8-Saugers.
Im Vergleich zu den Virage ist das Fahrgefühl im Aston Martin Virage 6.3 nicht so ausgefeilt, wie vielleicht erwartet. Das Handling ist nicht so präzise, was sicherlich auch mit der antiquierten Hinterradaufhängung zu tun hat. Einerseits wird so deutlich, welchen Entwicklungssprung der V550 und der V600 gemacht haben. Andererseits gefällt der 6.3 durch einen gewissen Skunkwork-Charakter. Es ist ein großes, grollendes Fahrerauto und ein wichtiges Modell innerhalb der Ahnengalerie.
Die beiden letzten Autos in unserem Vergleich – das Aston Martin V8 Coupé und die passende Volante – markieren das Ende der Virage-Linie. Die Bezeichnung Virage mag 1994 verschwunden sein, doch sind diese Autos würdige Nachfolger. Da nur 101 Coupés und 63 Volantes entstanden, sind sie heute unter Sammlern besonders begehrt. Ihr turbinensanfter 32-Ventil-Motor leistet um die 350 PS und passt bestens zu einem Fahrwerk, das mit seiner de Dion-Hinterachse die Verwandtschaft zu den Vantage-Typen betont. Auch die Innenräume wurden modernisiert.
Das Aston Martin V8 Coupé von 1997 fühlt sich weitaus jünger an, als es sein Alter vermuten ließe. Ein großartiges Beispiel dafür, wie Evolution ein Modell optimieren kann. Eine Freude zu fahren bei jeder Geschwindigkeit, und weitaus weniger fordernd zu pilotieren als ein Vantage. Ein rundum harmonisches und einladendes Auto – man schlüpft hinein und fühlt sich auf Anhieb wohl. Die Volante-Ableger erhielten extra einen längeren Radstand, damit sich die Insassen bequemer räkeln konnten. In vielerlei Hinsicht verleihen die Zusatz-Zentimeter den Autos sogar eine Extraportion Eleganz. Zwar sind sie dadurch auch ein wenig schwerer, doch ist eine Beschleunigung von 0 auf 96 km/h in 6,5 Sekunden noch immer standesgemäß. Zumal auch der Abrollkomfort perfekt ist und das Fahrwerk genügend Reserven hat, um bei einer drohenden Verspätung zum Cocktail eine schärfere Gangart wegzustecken. Doch würde ich lieber den Martini verschmähen, um stattdessen noch eine Runde über meine bevorzugte Landstraße zu drehen.
Welches mein Lieblingsmodell ist? Raten Sie mal! Diese fabelhafte Aston-Martin-Sammlung bot uns einen faszinierenden Einblick in eine glanzvolle Periode der an Hochs und Tiefs so reichen Aston Martin-Geschichte und die Epoche am Fin de Siècle, als die Handwerker in Newport Pagnell einige sehr starke und sehr clevere Maschinen zusammenbauten. Sie verdienen es, mehr gewürdigt zu werden, als es aktuell der Fall ist. Nicht zuletzt, weil sie so selten sind wie der über die Anden und Kalifornien gleitende Kondor.
Fotos: Robert Cooper für Classic © 2018