Wir bogen um die Kurve und ein massives altes Metalltor verstellte plötzlich unseren Weg – drei Meter breit und sechs Meter hoch. Es versperrte einen eher unheimlichen Zugang zu einem Tunnel, der aus einem Berg heraus gehauen worden war und im Granit an der Seite der Einfahrt die Inschrift „General Berge 1892“ trug.
Bis zu jenem Punkt hatte sich die Straße kontinuierlich fortentwickelt (oder sollte man besser sagen: rückentwickelt?) von glattem Asphalt zu steinigem Weg zu schotteriger Bergpiste – mit einer Fahrbahnoberfläche, die von der jährlichen Schneeschmelze fortgespült worden war. Wir checkten die Zeit und wussten, dass die Rallye-Teams in wenigen Minuten den Checkpoint 1 unten im Tal verlassen sollten. Was nur eine Stunde in Anspruch nehmen sollte, dauerte nun schon annähernd drei, ohne ein Ende in Sicht. Wir mussten aber weiter zu Checkpoint 2 fahren. Jetzt umzukehren, war keine Option.
Wir stellten vorsichtig unsere Motorräder auf der dünnen Eisdecke ab, die sich vor dieser Gebirgstür ausbreitete und marschierten ein paar Meter in den Tunnel hinein, um die weitere Fahrbahn zu inspizieren. Eine dicke Eisschicht bedeckte drei Meter breite Schlaglöcher, wovon einige der schlimmsten gut einen Meter tief waren. Der Tunnel war pechschwarz, vereist, aber auch voller Wasser, mit nur einem winzigen Hauch Licht am anderen Ende. Ein rauer Durchbruch von einer Seite des Berges zur anderen. Wir drehten die Bikes und den Super 3 wie auf Eierschalen herum und fuhren bei konstanter Geschwindigkeit in diesen dunklen Schlund, Knie und Ellbogen fungierten dabei als Stoßdämpfer, während wir durch das Eis krachten. Der Lärm von drei hochdrehenden Maschinen dröhnte und hallte wider in diesem schmalen Tunnel und unterlegte diesen wilden Moment mit einem ohrenbetäubenden Soundtrack.
Man ist sich nie stärker bewusst, wie relativ die Zeit tatsächlich empfunden wird, als wenn man mit einer technischen Aufgabe beschäftigt ist, die vielleicht ein wenig riskant ist, vielleicht sogar ein wenig sehr unvernünftig, aber dennoch einem jedes Quäntchen Konzentration abverlangt. Nach den gut 20 Minuten, in denen wir über gefrorenes Wasser geschleudert und geschlittert waren, sind wir förmlich auf der anderen Bergseite heraus explodiert. Gerade in dem Augenblick, als die Sonne über den Gipfeln aufging und das halbe Tal 2.000 Meter tiefer in goldenes Licht tauchte, während die andere Seite völlig im Dunklen lag. Kein Geräusch um uns herum, nur tiefe Stille. Man konnte den Blick kilometerweit über die schneebedeckten Gipfel schweifen lassen und diesen erhabenen Moment purer Schönheit einwirken lassen, vielleicht noch erhöht durch die erfolgreiche Befreiung aus diesem finsteren Tunnel. Wir vier standen ohne zu sprechen für ein paar Minuten einfach nur da und sogen alles in uns auf. Und dann mussten wir auch schon überlegen, wie wir uns nach unten durchlagen wollten.
Aber wie kam es überhaupt dazu, dass wir uns hier oben waren? Technisch betrachtet, hatten wir uns nicht wirklich verirrt – ausgehend von dem Punkt auf dem GPS wussten wir, auf welcher Seite des Berges wir uns befanden – zwischen Frankreich und Italien – und wir wussten, dass es eine Hauptstraße da unten im Tal gibt…irgendwo tief unter uns! Im Lauf der letzten drei Jahre, seit wir erstmals die Idee zu einer Bergrallye entwickelten, hatten wir so viele alpine Straßen wie nur möglich ausprobiert und erkundet. Immer auf der Suche nach dieser flüchtigen Vision einer „perfekten Route“ oder einer grandiosen Panoramastrecke. Diese perfekte Route definiert sich durch viele Faktoren: Kurven, Ausblicke, Fahrbahnoberfläche, mögliche Geschwindigkeit, Hindernisse und so weiter. Aber oft genug dreht es sich letztlich um das einmalige Erlebnis und das Verlagen, die eigenen Grenzen auszureizen. Den Maschinen und uns einiges abzuverlangen, umgeben von vielfältigen und einzigartigen Landschaften, alles innerhalb der Parameter der Rallye-Zeit und dabei ehrgeizige aber erreichbare Ziele für die Rallye-Teams zu stecken – alles mit dem Endpunkt vor Augen: Die südlichste Stelle in Monaco, auf Meereshöhe am tiefsten Punkt der Rallye.
Im Laufe unserer Vorbereitungen sammelten wir Hunderte von möglichen Cols und Pässen, Gipfel, Täler und Tipps von Freunden, Familie sowie digitale Empfehlungen, die wir als Post-its auf die Master-Karte für die Rallye klebten. Jener „Col de Papaillon“ gehörte dazu: Wir hatten Fotos gesehen und die Satellitenbilder sahen auch vielversprechend, schienen unsere Kriterien zu erfüllen. Allerdings handelte es sich um den einzigen Bergpass, den wir vor dem Event nicht selbst befahren konnten, weil er die meiste Zeit im Jahr geschlossen ist. Im Hinblick auf künftige Rallye-Planungen ergriffen wir natürlich die Gelegenheit, die sich bot. Zwei von uns hatten ausgemacht, noch vor Tagesanbruch loszufahren, um diesen Weg zu erkunden. Unser Foto- und Video-Team bekam Wind von dem Plan, weil sie nie zurückgelassen werden wollten, wenn potenziell tolle Locations lockten. Wir starteten also vor Sonnenaufgang – vier Motorräder und ein Morgan Super 3 -, mit dem Ziel, Checkpoint 2 am sechsten und letzten Tag der Rallye noch vor allen anderen Teams zu erreichen.
Während ich hinab ins Tal und auf den sich an der Seite des Berges schlängelnden Weg blickte, fiel mir die Bemerkung eines Bauarbeiters ein, den wir trafen, als wir bei unserem ersten Auskundschaften versuchten, von der Schweizer Alpenseite zur italienischen Seite zu gelangen. Ein Erdrutsch hatte eine der Brücken fortgerissen und als wir bis zum Rand des Flusses heranfuhren, eilte ein italienischer Mann in orangefarbener Arbeitskleidung zu uns und rief: „Die Berge sind lebendig!“ Die Alpen sind tatsächlich dauernd in Bewegung, rutschend und knarrend. Sie wachsen in die Höhe, sie kollabieren und verlieren eine Flanke. Im Herzen der Alpen, am Hauptkamm, ergibt jede Bewegung in den Bergen massive Folgen für uns motorradfahrende Menschen, wie beispielsweise eine komplette Änderung unserer unmittelbaren Richtung, der Route, unseres Zeitfensters und der Planung.
Die Abfahrt auf der anderen Bergseite war nur äußerst langsam möglich: Jetzt ging es hauptsächlich darum, das Risiko zu minimieren und jede Kurve einzeln anzusteuern, mit dem Fokus auf den nächsten Straßenabschnitt und dabei das Bike arbeiten zu lassen. An ein paar Stellen erforderte die Straßenführung, dass wir physisch das Heck des Morgan Super 3 aus den mit Schmelzwasser gefüllten Gräben und noch über einige kleine Granitbrocken heben mussten. Danach tänzelte der Super 3 wieder unbekümmert die Piste hinunter. Es ist übrigens faszinierend zu erleben, wie ein dreirädriges Fahrzeug eine solche respekteinflößende Herausforderung meistert, treu eskortiert von vier klassischen Motorrädern.
Endlich hatte sich auch die Wegbeschaffenheit zu unseren Gunsten verbessert. Stück um Stück wurde aus dem steilen Trail eine breitere Spur, und zwar mit perfektem Timing genau dann, als wir ein Dorf erreichten, wo eine Gruppe von älteren Damen gerade auf dem Platz plauderten und über dieses Rudel fremdartiger Fahrzeuge, das da vom Berg angebraust kam, nicht wenig staunte. Jetzt gab es sogar einen weißen Streifen auf der Dorfstraße und jenseits davon glatten Asphalt. Eine echte Straße führte hinunter ins Tal und wir beschleunigten, von Herzen erleichtert, dass wir diese unwegsame Etappe hinter uns geschafft hatten.
Als wir den Checkpoint auf der italienischen Seite erreichten, befanden sich die Rallye-Teams nur Minuten hinter uns und kamen nach und nach an, restlos begeistert von den saphirfarbenen Aussichten der „offiziellen“ Route, die sich an den azurblauen Gewässern des Lac de Serre-Poncon schmiegte. Im Tal herrschten 25 Grad, die Sonne wärmte und keine Wolke trübte den Himmel. Beste Bedingungen für eine Ausfahrt! Nur wir verschworenes Grüppchen wussten von den Zuständen der „anderen Route“ hierher, die über den Berg führte, durch Eis, Wasser und Finsternis. Es war ganz bestimmt alles andere als der perfekte Weg und er wird ganz bestimmt nie Teil künftiger Mountain Rallye-Planungen sein. Aber mit vier Freunden auf einem einsamen Gipfel den Sonnenaufgang zu erleben, wird zu meinen liebsten Erinnerungen der ersten Mountain Rally gehören.
Wir hatten geduldig am Checkpoint 2 ausgeharrt, die Teams waren längst weg, nur vier Motorradfahrer fehlten noch auf der Rallye-Zeittabelle. Dann hörten wir das knattern von Maschinen – und zwar aus der entgegengesetzten Richtung und tatsächlich von oberhalb. Als der letzte der vier Biker von unserer „anderen Route“ auf einer klassischen Enfield 350 angefahren kam, nahm er seinen Helm ab, von Ohr zu Ohr grinsend: „Well, das war furchterregend“, lachte er. Gut 100 einmalige Abenteuer, die alle durch den Faden einer Rallye-Route mit einander verknüpft waren…inklusive des einen oder anderen Umwegs!
Ich bin mir nicht sicher, woran es liegt, dass ich bei der Rückkehr von so einer Motorrad-Expedition, wenn ich gefragt werde „wie war´s?“, dann nur berichten kann, wie oft ich mich verfahren habe, irgendwas kaputt ging und die Dinge nicht wirklich nach Plan verliefen. Und meist erhalte ich dann als Gegenfrage: „Ach, und das soll ein Spaß sein?“ Aber es scheint so, dass die Momente, die sich in die Erinnerung brennen, jene sind, bei der dir plötzlich klar wird, dass du an einem Berg hängst, das Wetter wechselt, niemand weiß, dass du hier bist, du eigentlich auch nicht weißt, wo genau du bist – du musst in der Sekunde schnell denken, kluge Entscheidungen treffen und überlegen, ob Weiterfahrt oder Kehrtwende. Die Herausforderungen eines ganz realen Abenteuers sind adrenalingetränkt. Und das kann süchtig machen. Noch besser: So einen Moment mit Freunden zu durchleiden, als Team an einem Strang zu ziehen, sich umeinander zu kümmern und gemeinsam die Situation zu bewältigen, darum geht es letztlich bei allen echten Motorradabenteuern.
Fotos: Tom Kahler