In den frühen Sechzigerjahren wollte Graf Agusta nicht unbedingt ein für die Straße zugelassenes Motorrad mit dem gewaltigen Vierzylinderantrieb verkaufen, der durch die Grand Prix-Rennen berühmt geworden war. „Er hatte Sorge, dass normale Käufer ihre Bikes modifizieren und an Rennen teilnehmen würden. Mit der Folge, dass sie entweder seine Topfahrer blamieren oder mit ihren schlechten Ergebnissen den Ruf der Marke beschädigen würden,” erklärt Jean Marie Maréchal, ein MV Agusta-Connaisseur und Sammler sowie glücklicher Besitzer dieses hinreißenden Trios.
Interessenskonflikt
Doch die Entwickler bei Agusta verstanden durchaus den kommerziellen Reiz des kraftvollen Motors zusammen mit der Verlässlichkeit und Schönheit des Motorrads und beknieten ihren Chef, ein straßentaugliches Motorrad bauen zu dürfen. Als Graf Agusta 1965 endlich nachgab, hatte die neue 600 Touring allerdings nur noch wenig mit den Ingenieurträumen zu tun. „Agusta wollte ein Konzept mit größtmöglichem Abstand zu einem Sportmotorrad, damit die Leute erst gar nicht auf den Gedanken kamen, es für den Renneinsatz zu verändern”, erzählt Maréchal. Wenn man die „Vier” betrachtet, kann man sich nicht vorstellen, dass eben dieser Antrieb auch Größen wie Agostini, Surtees und Read ermöglichte, alle Konkurrenten in einer Staubwolke hinter sich zu lassen.
Die Geburt einer Legende
Die MV Agusta 600 Touring war nicht nur ein luxuriöser Grand Tourer, sondern zugleich eines der technisch fortschrittlichsten Serienmotorräder, das je entwickelt worden war. Unter dem höckerartigen Tank und dem gestuften Doppelsitz befand sich der 600 Kubik starke Vierzylindermotor mit erstmalig zwei oben liegenden Nockenwellen und einer Antriebswelle statt des gebräuchlicheren Kettenantriebs. „Dieses Motorrad wurde zwei Jahre vor der berühmten Vierzylinder-Honda 750 geboren,” sagt Maréchal, „aber selbst die hatte nur eine oben liegende Nockenwelle.” Rund 1.200 Road Bikes wurden bis 1979 in kleinen Stückzahlen, aber mit immer höherer Leistung gebaut. Allerdings haben nur 127 Exemplare der 600er das Werk verlassen - vermutlich, weil sie ausgesprochen kostspielig waren.
Die Kraft der Anfänge
Maréchals MV Agusta 600 Touring besitzt die Besonderheit, das erste Serienexemplar aus der Produktion zu sein: Sowohl das Chassis wie der Rahmen tragen die Nummer #001. Der südfranzösische Kenner wird nicht müde, die Bedeutung seines Motorrads zu betonen. „Sammler werden ganz natürlich von den ersten Exemplaren eines Objekts angezogen. Man denke nur an den Preis, der für die erste Shelby Cobra letztes Jahr in Monterey realisiert wurde.” Für Maréchal hat die MV Agusta gar eine ähnliche Bedeutung wie der allererste Ferrari 166, der übrigens ebenfalls schwarz lackiert war und eine einzigartige Reihe von Designelementen aufwies. Auch seine 600 Touring ist nicht nur in bestechend ursprünglichem Zustand, er besitzt sogar den originalen, von Graf Agusta eigenhändig unterschriebenen Kaufvertrag. „Da kommt für einen Sammler alles zusammen.”
Perfektes Timing
Jean-Marie Maréchal hat den MV-Agusta-Virus im Blut. Als Junge verfolgte er, wie seine Helden Giacomo Agostini und John Surtees die Welt immer wieder aufs Neue eroberten. Er selbst vermutet, dass er gut 30 der temperamentvollen italienischen Rennmaschinen besessen hat, und eine ganz Reihe bedeutsamer Motorräder anderer Hersteller. „Die MV Agusta ist ein Ferrari auf zwei Reifen,” stellt er fest. „Die Marke blickt auf 37 Konstrukteurs-Weltmeisterschaften und 270 Grand Prix-Siege zurück. Kein anderer Hersteller kann mit dieser legendären Tradition konkurrieren.” Als wahrem Kenner ist es ihm auch rechtzeitig zum 50. Jubiläum der Ikone gelungen, zwei weitere wichtige Serien-Vierzylinder von MV Agusta zu besitzen: eine Magni 861 und eine einzigartige Designstudie von Target Design.
Magnis Magie
Der leider im letzten Jahr verstorbene Arturo Magni war der Leiter des Werksrennteams Reparto Corsa und die treibende Kraft hinter den Motorsporterfolgen von MV Agusta. Als das Werk sich 1976 aus dem Rennsport zurückzog, begann der hochbegabte Ingenieur zusammen mit seinem Sohn Giovanni ultimative Sportmotorräder auf der Basis der MV-Vierzylinder aufzubauen. „Dieses Bike ist das genaue Gegenteil von meinem Exemplar mit der Nummer #001„weil es die letzte und kraftvollste Evolution einer legendären Maschine darstellt,” erzählt Maréchal. Sie basiert auf der 750 America und ist laut, aggressiv, und dann verführt sie auch noch mit einer Verkleidung in Rot und Silber, die so schön ist, dass man vor Begeisterung weinen möchte. „Magni war ein Genie vom Schlage eines Bizzarrini,” sagt Maréchal, „und dieses Motorrad ist seine kompromisslose Vision.”
Deutsche Punktlandung
Für das exzentrisch anmutende Gefährt auf der rechten Seite des Trios zeichnet das deutsche Designstudio Target Design verantwortlich. Es war sein Beitrag zu einem Wettbewerb, den die Zeitschrift Motorrad 1980 ausschrieb, um das „Motorrad der Zukunft” zu küren. Die ED-1 (ED wie European Design) war mit dem machtvollen Vierzylinder der MV Agusta 750 America ausgerüstet und setzte sich als Sieger gegen namhafte Konkurrenten von Porsche Design und Italdesign durch. „Diese Maschine konnte viele Jahre lang nicht bewegt werden,” erinnert sich Maréchal, „aber ein Spezialist, den ich sehr gut kenne, hat sie komplett neu aufgebaut und nun fährt sie sich wie ein Traum.” Motorradexperten unter den Classic Driver Lesern dürfte bereits die optische Ähnlichkeit der ED-1 zur ersten Suzuki Katana aufgefallen sein. Target Design hatte sich nicht nur bei diesem Wettbewerb durchgesetzt, sondern dadurch auch von Suzuki den Auftrag erhalten, aus dieser Studie Realität werden zu lassen.
Gratulation, MV Agusta!
Die Entwicklungsgeschichte der Vierzylindermaschine zusammen mit ihrer innovativen Kraft für zukünftige Modelle haben sie zum Star der MV Agusta-Gemeinde werden lassen. Längst ist gerade dieses Motorrad unter Sammlern wegen seiner Bedeutung für die legendäre Marke so begehrt. Diese drei Motorräder sind Ausdruck der „Faszination Vier” und erzählen auf ihre unterschiedliche Weise eine faszinierende Geschichte. Vor allem die MV Agusta 600 Touring #001 dürfte international zu den bedeutsamsten Motorrädern zählen. Und das ist nicht alles: Man kann sie sogar selbst besitzen, denn Maréchal bietet sie zur Zeit im Classic Driver Markt zum Verkauf an. Besser könnte man das 50. Jubiläum dieser Ikone wohl nicht feiern!
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2016