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Magazin

Iso Grifo GL 350 Coupé

„Das Automobil hat eine Seele“, sagen Besitzer, die zu ihrem Fahrzeug eine enge Beziehung pflegen. Sie werden Automobilliebhaber genannt. Das Iso Grifo Coupé ist so ein potentielles Automobilliebhaberfahrzeug, mit einer Besonderheit: Es besitzt zwei Seelen.

Zweiseeligkeit

Nummer eins – in Gestalt einer klassisch-italienischen Sportwagenkarosserie – verleiht dem Zweisitzer Schönheit, Charisma und Charme. Die zweite Seele – sie ruht unter der Motorhaube, in den Tiefen des 5,4 Liter Chevrolet-V8-Blocks – verleiht der italienischen Diva die Schlagkraft eines „American Gladiators“. So unterschiedlich sie sind, so emotional ist ihr Zusammentreffen – wir waren mitten drin.

Auf den ersten Blick verkörpert der weinrote Iso Grifo einen klassischen italienischen Gran Turismo der Sechzigerjahre – lange Motorhaube, flache Dachlinie, markantes Heck. Dank seiner scharfen Kanten und prägnanten Wölbungen wirkt er jedoch eigenartiger als ein gleichaltriger Ferrari. Ähnlich rebellisch wie eine Lamborghini-Karosserie, gleichzeitig aber gediegen, vielleicht sogar ein wenig amerikanisch. Man erkannt, dass hier ein Designer, in dem Fall Giorgetto Giugiaro, freischaffender zu Werke gegangen ist. Schließlich stammte die Auftragsarbeit nicht von einem traditionellen Hersteller wie Ferrari, sondern ebenfalls von einer Kreativabteilung, der Carrozzeria Bertone.

Die Seitenlinie des Coupés wirkt so athletisch wie die Silhouette einer Raubkatze. Unterstützt wird dieser Eindruck von gewölbten Radhäusern, die vor allem hinten auffallend akzentuiert wurden. Ein weiteres prägnantes Element der Karosserie ist die große, weit in die Fahrgastzelle ragende Heckscheibe. Sie spannt sich wie ein Teil des Daches über den Fahrzeugkorpus und überlappt seitlich bis zum Radkasten. Damit übernimmt die Scheibe die Funktion der fehlenden C-Säule und schafft ein wenig Targa-Atmosphäre.

Der Innenraum des Iso Grifo lädt zum Verweilen ein. Armaturen, Sitze, Fußräume und sogar die Schweller wurden mit beigem Leder bespannt, die Anzeigentafel im Armaturenbrett aus Wurzelholz gefertigt. Sie integriert alle für den Fahrer wichtigen Messinstrumente. Ein Clou sind die in der Mittelkonsole angeordneten Kippschalter mit italienischen Bezeichnungen zur Steuerung der Lichtanlage und der Belüftung. Wie es sich für einen luxuriösen Gran Turismo der Sechzigerjahre gehört, verfügt der Iso natürlich über elektrische Fensterheber.

Herzschlag

Einsteigen und starten. Nach gezieltem Anfüttern durch einige Gasstöße erwacht der Bär aus seiner Höhle. Gemächlich stapfend, tief atmend wie eine startende Dampflokomotive kündigt er seinen Weg ins Freie an. Das Tier unter dem italienischen Seidenkleid ist ein 5,4 Liter V8 aus dem Hause General Motors, der sich gerade den letzten Schlaf aus den Augen kratzt. Aus der Zwei-Kanal-Abgasanlage ertönt das souveräne Grollen eines amerikanischen Muscle-Cars. Das Triebwerk leistet 350 PS und bringt mit 488 Nm bei 3.600/min. reichlich Drehmoment auf die Hinterachse. Auf den ersten Kilometern gibt der V8 das Kommando über Karosserie und Fahrer – während sich das Fahrzeug mit einer Wankbewegung nach jedem Schaltvorgang den Kräften des Bären beugt, hält der Fahrer das Gespann nur in der Spur und genießt das Spektakel ehrfürchtig.

Nach einigen gefahrenen Kilometern stellt sich eine gewisse Routine ein; der Fahrer übernimmt das Kommando. Gewöhnungsbedürftig bleiben allerdings die Bremsen, die der Bärenkraft nur gerade eben gewachsen sind. Dagegen ist das Fahrwerk des Iso Grifo stimmig – komfortabel, aber nicht schwammig. Das Coupé lässt sich präzise durch jede Kurve bugsieren und gibt dabei stets direkte Rückmeldung. Die Gänge lassen sich, sofern das Getriebe Betriebstemperatur hat, sauber einlegen und sind relativ kurz abgestuft.

Der Iso Grifo braucht Auslauf. Für den Großstadtverkehr ist der Zweisitzer einfach overdressed. Landstraßen sind sein Revier, auf denen er seine Kraft voll entfalten kann. Wenn man das Auto erstmal im Griff hat, ist die Ausfahrt ein Genuss für die Sinne. Der Herzschlag des Achtzylinders hat eine beruhigende Wirkung und regt zum Cruisen an. Wir nennen es Seelenfrieden. Tritt man das Gaspedal durch, marschiert das Coupé in 7,0 Sekunden von Null auf 100 km/h. Die Höchstgeschwindigkeit soll erst bei 250 km/h erreicht sein. Ausprobiert haben wir es nicht.

Am Puls der Zeit

An der die Entwicklung des Iso Grifo Coupé waren eine ganze Reihe namhafter Automobilvisionäre beteiligt – Giugiaro, Bertone, Bizzarrini und nicht zuletzt Rivolta. Der Firmenchef Renzo Rivolta hatte bereits erfolgreich die eigens entwickelte „Isetta“ mit Lizenzverträgen an europäische Automobilhersteller vertrieben – bekanntester Lizenznehmer war BMW, der die BMW Isetta ab Mitte der Fünfziger wie geschnitten Brot verkaufte. So besaß der italienische Autobauer das finanzielle Rückgrat für einen neuen Plan. Für das Iso Grifo Coupé mobilisierte Renzo Rivolta die Karosserieschmiede Bertone, eine innovative Coupéhaut mit Platz für zwei Passagiere, Reisegepäck und einen leistungsstarken amerikanischen Achtzylinder zu konstruieren. Bertone reichte den Designauftrag wiederum bei Giorgio Giugiaro ein.

Giotto Bizzarrini beschäftige sich derweilen mit der Technik des Zweisitzers – parallel entwickelte er eine Rennsportvariante des Iso Grifo, die 1964 beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans startete. Zunächst kam für die Straßenversion der 5,4 Liter V8 „Smallblock“ in zwei Leistungsvarianten zum Einsatz. Das hier präsentierte Iso Grifo Coupé (GL 350) birgt die stärkere 355 PS-Variante, den Einstieg machte eine 300 PS-Version. Um den kraftvollen Achtzylinder zu bändigen, erhielt das Coupé schon damals Scheibenbremsen an allen vier Radnaben. Für die Übersetzung wurde zunächst ein manuelles Vier- und Fünfganggetriebe verbaut, auf Wunsch war auch eine Dreigang-Automatik von GM erhältlich.

Das Iso Grifo Coupé wurde von 1964 bis 1974 gebaut. Nachdem Renzo 1966 verstarb, übernahm sein Schössling und Sohn Piero das Unternehmen. Von da an wurde immer wieder am Antrieb des Coupés gefeilt. Die Motoren wurden stärker – Ende der Sechzigerjahre präsentierte Piero den Iso Grifo „7 Litri“. Sein 7,0 Liter Big-Block leistete beachtliche 400 PS und ermöglichte eine Höchstgeschwindigkeit von unglaublichen 300 km/h. Die Produktion des Iso Grifo endete mit der Konkursanmeldung des Unternehmens. Während der vergleichsweise kurzen Amtszeit des Automobilherstellers wurden entsprechend wenig Fahrzeuge gefertigt. Zumal das Iso Rivolta Coupé zu einem horrenden Preis von mindestens 55.000 DM angeboten wurde. Insgesamt gingen nur rund 400 Exemplare in den Verkauf, davon fast zwei Dutzend Targa-Versionen, die 1966 nachgeschoben wurden.

Fotos: Jan Baedeker