Rolls-Royce blickt in eine spannende Zukunft: Für das kommende Jahr 2007 ist die Markteinführung des 100EX – dem vielleicht größten und teuersten zweitürigen Cabriolet der Automobilgeschichte – angesetzt, ab 2008 soll das passende Über-Coupé 101EX folgen. Für 2009 darf man dann bereits den New Generation Saloon, ein Rolls-Royce für die „Business Class“ erwarten. Mit dem sportlichen Einstiegsmodell auf Basis der kommenden BMW Siebener-Reihe möchte die britische Traditionsmarke als erster Hersteller das Boom-Segment zwischen 200.000 Euro und 250.000 Euro für sich gewinnen. Auch die neuen Märkte in Osteuropa und China stehen in Sachen Modellpolitik ganz oben auf der Agenda. Doch um die Zukunft der Marke realistisch zu bewerten, muss man die Wurzeln kennen – in diesem Fall die erste Luxus-Symphonie unter bayerischer Regie, den mythisch-gewaltigen Rolls-Royce Phantom. Ist eine Reise mit dem 375.000-Euro-Flaggschiff aus Goodwood wirklich nur im Fond ein Erlebnis? Oder hält der Koloss auch für den sportlichen „Gentleman Driver“ eine Offenbarung bereit? Wir haben die lebende Legende zum Grenzerfahrungs-Trip in die Schweizer Alpen entführt – mit bewusstseinserweiterndem Ergebnis!
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Der Rolls-Royce Phantom unterscheidet sich drastisch von allen anderen Automobilen. Das wird schon auf den ersten Autobahnkilometern klar, als sich der zäh fließende Wochenendverkehr vor „Emily“ – dem silbernen Kühlermädchen – teilt wie einst das Rote Meer vor Mose. Steil und kantig wie die Eigernordwand verdunkelt das Frontmassiv die Rückspiegel meiner Vordermänner, demütig weichen sie aus meinem Schatten auf die rechte Spur. Umhüllt von schwarzem Leder und poliertem Edelholz werde ich nach vorne gesogen. Nur ein sonores Summen kündet von der Kraft des gewaltigen Zwölfzylinders unter der endlosen Fronthaube, die sich in meinem Blickfeld spannt wie das Hauptsegel einer Wally 80 im Wind. Mit 460 PS und 720 Newtonmetern ist der Phantom nicht nur für das Rolls-Royce-typische Dahingleiten ausgelegt. Sobald man den rechten Fuß etwas fester aufs Gaspedal drückt, hebt sich die Front wie der Bug einer großen Yacht bei Wellengang und die weiße Tachonadel schiebt sich wie von einem Luftzug gestreift in Richtung der 240-km/h-Marke, dem einzig sicheren Anzeichen für das Erreichen der Höchstgeschwindigkeit. Denn nicht nur der Motor ist komplett schallisoliert, auch der Boden unter den zentimeterdicken, nachtschwarzen Teppichen ist unterkellert, um der Außenwelt wenigstens akustisch den Einlass zu verwehren. Zu dem erhebenden Gefühl des sphärischen Gleitens trägt neben dem Lärmschutz und der obligatorischen Luftfederung auch die Höhe des Wagens und die thronartige Sitzposition bei – beim Überholen ist man sogar mit einem Porsche Cayenne auf Blickhöhe.
Mit 2,5 Tonnen ist der silbergraue Rolls-Royce Phantom zwar leichter als einer von Hannibals Elefanten, für eine Alpenüberquerung mit sportlichem Anspruch könnte das Gewicht trotzdem die größte Hürde bedeuten. Von Tiefencastel führt die Nordroute zuerst nur leicht geschwungen über Savognin und entlang des Stausees Lago da Marmorera nach Bivio, wo der Weg zum Serpentinenpass in Richtung Engadin abzweigt. Dem Phantom bleibt also noch etwas Zeit, sich an die Bergluft zu gewöhnen und für den Gipfelspurt warm zu werden. Die sanfte, aber kraftvolle Beschleunigung verträgt sich gut mit den langgezogenen Kurven, das altmodische Lenkrad gleitet angenehm durch die Finger, die „Spirit of Extacy“ weist als Galionsfigur den Kurs. Nur 5,9 Sekunden dauert die Beschleunigung aus dem Stand auf Tempo 100, bei 3.500 Touren presst schon das gesamte Drehmoment auf die Hinterräder, das Drehzahlband endet bei 5.350/min. Einen Drehzahlmesser gibt es traditionsgemäß nicht – stattdessen informiert eine Anzeige über die Leistungsreserven des Motors in Prozent. Die Strecke ist frei, ich gebe mehr Druck auf den Gasfuß. Wie eine Tsunamiwelle baut sich der Phantom auf, bricht dann los und schießt mit springflutartigem Vorwärtsdrang über den Asphalt. „Waftability“ nennt man diese Fähigkeit bei Rolls-Royce. Zu beiden Seiten der Straße türmen sich schon die kahlen Hänge, die Sonne steht im Zenit, die Leistungsreserven liegen bei 30 Prozent. Es ist Zeit für den Berg.
Nur neun Kilometer liegen zwischen dem Graubündner Natursteindorf Bivio und der Passhöhe, die Höhendifferenz beträgt 515 Meter. Die ersten spitzen Kehren nimmt der Rolls-Royce mit der eigenwilligen Souveränität einer kreuzenden Hochseeyacht – bis zum Scheitelpunkt der Kurve scheint sich der lange Bug mit dem kurzen Überhang weiter geradeaus zu schieben, dann wechselt die Emily den Kurs um 90 Grad, zieht mit einem kraftvollen Schwung heraus und zurück in die nächste Gerade. Es ist ein wenig wie Skifahren im Telemark-Stil, nur eben bergauf. Sein Gewicht weiß der Phantom dabei gut zu kaschieren, auch die Lenkung ist direkter als angenommen. Wohlklimatisiert und geschmeidig, ohne fühlbare Anstrengung, gleiten wir den Julier empor. Um den Wagen aus seiner Reserve zu locken, muss ich wohl auf Plan B zurückgreifen. Natürlich ist mir eins bewusst: Ein Rolls-Royce muss behandelt werden wie eine königliche Hoheit, mit Demut und Respekt. Doch um den Blick in die Zukunft der Marke zu wagen, sollten wir auch die gegenwärtigen Grenzen kennen lernen. Zudem scheint „His Royal Highness“ heute in sportlicher Laune zu sein. Ein leichter Druck mit dem Finger und aus der Armauflage schiebt sich ein silberner Knopf, während sich die Uhr auf der Mittelkonsole in bester MI6-Manier nach hinten dreht und ein kleines Display freigibt. Sekunden später ist das Stabilitätsprogramm DSC deaktiviert.
Müssen die Sportsmänner unter den Rolls-Royce-Fahrern wirklich bis nach Sankt Moritz schweben, um sich beim legendären Cresta Run in die adrenalinversprechenden Eisbahn zu stürzen? Oder ist der neue Phantom britisch genug und füllt seinem Master bei Bedarf auch die alpine Hausstrecke mit Goodwood-Flair? Mit erhöhter Geschwindigkeit und ausgeschalteter Traktionskontrolle geht es in die nächste Testrunde. Die Reifen beginnen zu quietschen, die Fliehkräfte ziehen an der gewaltigen Karosserie – doch der Phantom bleibt seiner Linie treu: Bevor das Heck nur zucken kann, springt die Automatik schon in den nächsten Gang. Die königliche Souveränität, mit der sich der Rolls-Royce beim Anfahren in Bewegung setzt, hält er auch im Grenzbereich aufrecht. Die Zahnstangenlenkung vermittelt optimalen Kontakt zur Fahrbahn, der Aluminium-Space-Frame sorgt für sagenhafte Stabilität – der Phantom ist zweimal so steif wie eine Limousine mit Stahlkarosserie. Der lange Radstand und die Luftfedern sorgen dabei für absolute Ruhe.
Als ich in 2284 Metern Höhe die Spitze des Julierpasses erreiche, habe ich verstanden: Der Rolls-Royce Phantom ist das Zentrum, der Nukleus, in dem alle Fäden zusammenkommen. Seine beeindruckende Physis, sein einzigartiger Komfort, seine unbeirrbare Technik verbinden über einhundert Jahre Tradition mit den Anforderungen des neuen Jahrtausends. Die Verbindung mit BMW gibt Rolls-Royce heute die Möglichkeit, den Mythos vom besten Auto der Welt nicht nur auf die Historie, sondern auch durch eine zeitgenössische Neuinterpretation zu beweisen. Vor dem Kühler windet sich die Straße nach Silvaplana, weiter hinten im Tal liegt Sankt Moritz, das legendäre Winterdomizil des europäischen Jetset, international beworben als „Top of the World“. Der Phantom hat sein Ziel erreicht: Er trägt den Geist des vergangenen Jahrhunderts in die Gegenwart wie kein anderes Automobil. Er verbindet altmodische Klasse mit postmodernem Minimalismus und steht in einer wechselhaften Zeit für die ultimative Form der Fortbewegung – ob direkt am Steuer oder auf den Sesseln im Fond. Der Rolls-Royce Phantom ist zeitlos – und wird es auch in Zukunft sein. Ob seine marktgerechten Nachfolger diesen Status eines fernen Tages erreichen können, müssen sie erst noch beweisen.
Text/Foto: Jan Baedeker
Produktion:J. Philip Rathgen
Video: Jan Baedeker/Miguel Martinez (Kamera)/Maike Möller (Schnitt)/Julius Steinhoff/Smallville Records (Musik)
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