Ein Benz wie eine Burg
Text: Mathias Paulokat
Fotos: Jan Baedeker
Typ 600, Baumuster W 100. Kennern der Marke mit dem Stern sagt dieser Code alles: Der große Mercedes! Das Repräsentationsauto par excellence gibt sich bei Classic Driver die Ehre. Der Zeitpunkt ist sorgsam gewählt. Zum Weihnachtsfest 1964 wurde der erste Mercedes 600 ausgeliefert. 46 Jahre später rekapitulieren wir die Entstehungsgeschichte des großen Mercedes, von Pullmann und Landaulet. Unser Votum fällt eindeutig aus: Ein Vertreter dieser Fahrzeugklasse gehört in jede ernsthafte Mercedes-Sammlung. Denn der 600er liefert die Essenz von Mercedes – technische Tugenden, alte Werte, automobile Überlegenheit. Kurzum: Große Klasse!
„Ein 600er!“ Dieser Ausruf läßt bei Automobilliebhabern sofort das Bild der langen, schweren Chauffeur-Limousine vor dem Auge entstehen. Wie kein anderer Sternwagen steht der Mercedes 600 für die ganz große Klasse aus den Sindelfinger Werkstätten. Dabei handelt es sich beim 600er genau genommen um den dritten großen Wagen aus Stuttgart. Bereits auf dem Pariser Salon 1930 debütierte der „Große Mercedes“ vom Typ 770. Ein Fahrzeug, welches Mercedes Weltruhm einbrachte und den Grundstein für Markenwerte „Luxus, Kraft und Zuverlässigkeit“ setzte. Nach dem zweiten Weltkrieg trat der als „Adenauer“ bekannte Mercedes 300 das Erbe an.
Vergleichsweise bescheiden motorisiert, demonstrierte der Adenauer ein gebotenes Maß an Demut. Das sollte sich bald ändern. Denn mit der wachsenden Prosperität Deutschlands und auch der Marke Mercedes reiften in den 1960er Jahren Pläne, einen neuen, dritten großen Mercedes zu lancieren. Im Segment der Sportwagen hatte der 300 SL längst das Renommée gestärkt – nun mußte ein Technologieträger im Limousinensegment her, der das Leistungsvermögen der Marke Mercedes wirksam zu demonstrieren vermochte.
Der große Mercedes
Frankfurt, September im Jahre 1963. Die Internationale Automobilausstellung. Aufregung am Stand von Mercedes-Benz. Alle wollen einen Blick erhaschen. Denn es ist soweit: Der neue Mercedes-Benz 600 steht im Rampenlicht. Die Resonanz ist überwältigend. Wer in jenen Tagen die Gazetten aufschlug, las Berichte über den „aufsehenerregendsten Repräsentationswagen der Welt“ oder etwa den „neuen Botschafter, der Deutschland im Kreise exklusiver Automobile vertritt“. In der Tat wirkten Rolls-Royce oder Bentley schlagartig um Jahre gealtert.
Tatsächlich genossen die Ingenieure bei der Entwicklung des Mercedes 600 beinahe alle Freiheiten. Budgetvorgaben waren damals nur eine Randnotiz. Ein Lastenheft im eigentlichen Sinne gab es nicht. Dafür machte in Stuttgart der Begriff der „Spielwiese“ von sich reden. Alles, was dazu diente, ein neues Flaggschiff zu schaffen, war erlaubt. Mehr noch: erwünscht. Denn Mercedes wollte mit dem neuen Fahrzeug auch klar die Technologieführerschaft übernehmen. Und dies in allen Kategorien – im Karosserie- und Fahrwerksbau, im Motorenbau, in punkto Komfort, Zuverlässigkeit und auch bei der Fahrzeugsicherheit. Bei der Abwägung der Motorisierung fiel die Entscheidung zu Gunsten eines großvolumigen V8-Motors, da ein V12-Aggregat nach damaliger Auffassung keine entscheidenden Vorteile brachte. Man startete 1959 in der Entwicklung mit zunächst 5,4 Liter Hubraum. Erst zum Jahresanfang 1963 folgte die Hubraumerweiterung auf nunmehr 6,3 Liter; mit Benzindirekteinspritzung und jeweils einer oben liegenden Nockenwelle pro Zylinderbank. Der M100 genannte Motor leistete bei 4.000 Touren 250 PS.
Parallel zur Motorenentwicklung fächerte Mercedes die Karosserievarianten auf. Neben den „normalen“ Limousinen des Baumusters 100.012, zu denen auch unser Fotofahrzeug zählt, gesellte sich der 600 lang – besser bekannt als „Pullmann“. Für eine bessere Diskretion im Abteil sorgte die Variante mit fester Mittelwand, Baumuster 100.014 – erhältlich ab November 1965. Im März des darauffolgenden Jahres präsentierte Mercedes die sechstürige Pullmann-Limousine, Baumuster 100.016. Und im April folgte die wohl mondänste Variante in Gestalt des Pullmann-Landaulet (Baumuster 100.015). Der absolute Überbenz folgte 1971: das Landaulet mit sechs Türen.
Classic Driver empfiehlt
Präzise gesagt, bezeichnet das Chiffre „600“ somit eine ganze Fahrzeugklasse und nicht nur einen Fahrzeugtyp. Aus heutiger Perspektive stellen sich alle Varianten als attraktive Kaufobjekte dar. Es gilt die Grundregel: Je größer, individueller und aufwendiger der Aufbau, desto höher der Fahrzeugwert. Aus dem Classic Driver Blickwinkel jedoch erscheint uns allerdings einmal mehr die hier gezeigte „Normalversion“ besonders empfehlenswert – als Universaltalent, sichere Bank und elegantes Alltagsfahrzeug. Doch Obacht: Kompakt ist auch dieses Fahrzeuge nicht. Der „Kurze“ mißt 5,54 Meter in der Länge und ist 1,95 Meter breit. Leergewicht: knapp 2,5 Tonnen.
Ab rund 75.000 Euro sollte ein gutes originales oder teilrestauriertes Fahrzeug erhältlich sein. Hervorragende und von renommierten Fachbetrieben komplett überarbeitete Exemplare überspringen bereits heute problemlos die 100.000 Euro Marke. Zu Recht, denn der 600er ist ein komplexes Technikum, dessen Wartung und Reparatur tiefe Taschen verlangt. Der große Motor, zahlreiche Nebenaggregate, eine mit Druckluft verstärkte Bremsanlage, das im Idealfall lautlose Hydrauliksystem und vor allen Dingen die wartungsintensive Luftfederung verlangen bis heute ihren Tribut. Dafür allerdings wartet der 600er mit Features auf, die in Anbetracht seines Alters bemerkenswert sind: höhenverstellbares Fahrwerk, Niveauregulierung, verstellbare Lenksäule, hydraulisch verstellbare Einzelsitze (4-fach), eine mit Unterdruck arbeitende Zentralverriegelung, Mehrzonen-Heizung und Türen mit Anzugsmechanik (neudeutsch: „Softclose“) sollen als Beispiele genügen.
Als Sonderausstattungen waren neben Telefon, Gegensprechanlage, Kühlschrank und Minibar auch Fernseher und ein separates Audio-System im Fonds erhältlich. Wie jeder 600er ist auch die kurze Variante ein Ergebnis sorgfältiger Handarbeit. Im Sindelfinger Kellergeschoß entstanden die großen Wagen in monatelanger Einzelanfertigung. Karosseriespengler, Sattler und Polsterer, Feintäschner und Möbeltischler schufen hier ein Gesamtwerk, welches bis heute nicht durch barocke Opulenz, sondern vielmehr elegantes Understatement besticht. Nur wer über 15 Jahre beim Daimler geschafft hatte, durfte in der Spezialabteilung sein Können unter Beweis stellen.
600 – damals wie heute
Zeitlos. Diese Beschreibung charakterisiert den Mercedes 600 aus heutiger Sicht treffend. Die Geradlinigkeit des Wagens wirkt keineswegs gefällig, eher wuchtig, präsentiert sich effektfrei und entsagt offenkundig jeglicher Mode. Dieser Mercedes ist ein selbstbewußtes Statement, an dem Kritik abprallt, wie Geschosse an einer Festungsmauer. Der 600er ist ein Benz wie eine Burg. Der Wagenbug ist markentypisch und verinnerlicht das Mercedes-Styling von Jahrzehnten: Bestimmendes Element ist der aufrechte Kühlergrill aus massivem Chrom. Senkrechte Leuchteinheiten und eine schwere Stoßstange darunter – mehr brauchte es nach Auffassung von Karl Wilfert, Leiter der Karosserieentwicklung bei Mercedes, nicht. Ganz ähnlich sahen dann auch die Mercedes Heckflossen aus und später die Mittelklasselimousinen der Strich-Acht Baureihe.
Auch das Heck kultivierte bekannte Stuttgarter Ansichten: quer liegende Rückleuchten, Chromstoßstange, abgerundeter Kofferraumdeckel mit zentralem Mercedes-Stern. So zeigten sich auch Cabriolets und Coupés der Baureihe W 111 und W 112, „S-Klassen“ der Baureihe W 108, Pagoden-SL der Baureihe W 113 und die Strich-Acht Modelle. Die Fahrleistungen des Mercedes 600 passen zum Gesamtauftritt. In rund zehn Sekunden beschleunigt die Limousine aus dem Stand auf 100 km/h. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei über 200 km/h. Zeitgenössische Test bescheinigten dem Mercedes 600 exakt 209 km/h V-max.
Für die Chronisten unter uns: Der erste Mercedes 600 wurde zum Weihnachtsfest 1964 ausgeliefert. Er ging nicht etwa an eine hoheitliche oder staatliche Garage. Auch nicht an einen Prominenten in Hollywood, wohl aber in die USA. Ein Architekt aus Missouri erhielt damals das „neue Leitbild im internationalen Automobilbau“. Passend, denn in die USA wurden die meisten Fahrzeuge verkauft – und dies obwohl der 600er seinerzeit deutlich teurer als ein Rolls-Royce Silver Shadow war. In Deutschland entwickelten sich die Basispreise zwischen dem Produktionsbeginn und dem Fertigungsende von 56.500 Deutsche Mark bis zu über 157.000 Mark im Jahr 1981. Wir schließen mit einer tröstlichen Nachricht. Sollte das Budget zum Erwerb und Erhalt eines klassischen Mercedes 600 nicht ganz reichen, gibt es im Youngtimer-Segment eine interessante Alternative, die dem Spiritus rector huldigt. Die S-Klasse der Baureihe W140 ist in Sachen „Großer Mercedes“ unsere korrespondierende Youngtimer-Empfehlung. Die Parallelen sind verblüffend.