Die Geschichte
Text & Fotos: Jan Baedeker
Produktion: J. Philip Rathgen
Er war der Star des Turiner Salons 1963 – der Fiat Ghia G230 S Prototipo. Als Basis für die lichtdurchflutete Konzeptstudie mit dem gläsernen Heck diente das brave Fiat 2300S Coupé, doch unter der Haube hatte die halbe italienische Sportwagenprominenz ihre Finger gehabt. Classic Driver durfte das giftgrüne Einzelstück nun auf eine exklusive Ausfahrt entführen.
Es war ein experimenteller Jahrgang, den die italienische Autobranche 1963 in Turin präsentierte: Der Traktorenfabrikant Ferruccio Lamborghini zeigte mit dem Lamborghini 350 GTV seinen ersten Sportwagen-Entwurf, der Legende nach eine Abrechnung mit Enzo Ferrari. Auch Alejandro De Tomaso verließ mit dem straßentauglichen Mittelmotor-Prototype Vallelunga die vertraute Rennstrecke. Und Giotto Bizzarrini enthüllte die gemeinsam mit Giorgetto Giugiaro entwickelte Vorstufe des Iso Grifo A3/L. Auch die Carrozzeria Ghia präsentierte kein serienreifes Modell: Obwohl das Fachmagazin „L’Automobile“ den Fiat Ghia G230 S zu einem der schönsten Wagen des Salons kürte, sollte er – im Unterschied zu seinen Turiner Zeitgenossen – nie das Entwicklungsstadium überschreiten.
Doch der Reihe nach. Anfang der 1960er-Jahre war Ghia vor allem mit Auftragsarbeiten für Fiat beschäftigt. Auf Basis des Fiat 2100 hatten die Turiner Karosseriewerke das viersitzige Fiat 2300 Coupé sowie eine sportliche S-Version entwickelt und zunächst in Kooperation mit Carlo Abarth in einer Pilotserie selbst gebaut. Als die Kapazitäten an ihre Grenzen stießen, wurde die Produktion des Coupés zu Fiat verlagert – und Ghia begann mit der Konzeption eines eigenständigen, zweisitzigen Prototypen. Für den Antrieb des Fiat Ghia G230 S wurde der 2,3 Liter-Reihen-Sechszylinder des Fiat 2300 S Coupé exportiert und die Leistung bei Abarth von 131 PS auf etwa 150 PS erweitert. Schaltgetriebe und Achsen wurden ohne große Veränderungen von Fiat übernommen. Der Gitterrohrrahmen wurde von Gilberto Colombo beigesteuert, der mit dem Rahmen des legendären Maserati Birdcage berühmt geworden war. Die Karosserieform entstand schließlich unter der Regie von Chefdesigner Sergio Sartorelli, der bereits den legendären VW Karmann-Ghia entworfen hatte.
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Das Design
„Der Fiat Ghia G230 S vereinigt eine große Stromlinienfeinheit mit besonders eleganten Formen“, so schrieb „L’Automobile“ im Dezember 1963. Derartige Schlagzeilen waren wichtig für die Carrozzeria Ghia, da sie mit der Produktion von Prototypen nicht nur die technische Entwicklung der Hersteller anregen mussten, um ihren Stand zu sichern, sondern auch die Phantasie von Presse un Publikum. Und das ging nur über eine avantgardistische Form. Die Leidenschaft der italienischen Designer, die mit ihren zahlreichen Kollegen aus der Region im ständigen Wettstreit um die kühnste Linienführung standen, war groß. Die technischen und finanziellen Mittel dagegen eher beschränkt.
Große Verglasungen mussten zu dieser Zeit eben sein und so entstand die Idee einer gewölbten Heckscheibe für den Fiat Ghia G230 S Prototipo. Doch die Umsetzung war teuer und der mögliche Neigungswinkel aufgrund optischer Verzerrungen begrenzt. Für die Lichter musste Sartorelli auf die Regale bei Fiat zurückgreifen; die Doppelscheinwerfer stammten aus dem Fiat 1300, die Rückleuchten gehörten dem Fiat 850. Auch für den Innenraum standen dem Designer nur Serienfabrikate zur Verfügung. Die Fußstütze für den Beifahrer stammte aus dem Fiat 2300 S und das extravagante, in Wagenfarbe lackierte Blech, in dem die Armaturen eingefasst sind, hatte vor allem den Zweck, die Rahmenstrukturen dahinter zu verstecken. Da auch Kunstharz damals im Prototypen-Bau noch äußerst begrenzt war, entstand die eigentliche Karosserie aus Stahl- und Aluminiumblechen, die von einem Sprengler mit meisterhafter Präzision per Hand auf einem maßstabsgetreuen Gipsmodell geformt wurden.
Obwohl das elegante, zweisitzige Sportcoupé mit seinem großzügigen Laderaum aus heutiger Sicht durchaus marktgerecht erscheint (was wünscht sich der wohlhabende Junggeselle mehr als eine sportliche Maschine, zwei Sitze und viel Platz für Sportgerät und Reisegepäck?), entschied sich Fiat gegen eine Serienproduktion des Wagens unter eigenem Label. Das ursprünglich noch graumetallic lackierte Coupé erschien den Vorständen zu nah an dem von Ghia entworfenen Fiat 2300 S Coupé und deshalb nur wenig gewinnversprechend. Nur ein oder zwei weitere Prototypen wurden gebaut, um auf internationalen Messen für die Carrozzeria Ghia zu werben. Unser grünes Modell wurde nach dem Turiner Salon an einen Vorstand von Philips an die Côte d’Azur verkauft, schmückte später einen Fiat Showroom in Marseille und steht heute als das wahrscheinlich letzte erhaltene Exemplar beim Hamburger Klassik-Händler E. Thiesen zum Verkauf.
Das Fahrerlebnis
Stoßstangen, Kühlergrill, Verchromungen und Borrani Speichenfelgen – bis auf die lichtgrüne Lackierung entspricht jedes Detail des Fiat Ghia G230 S Prototipo dem Stand von 1963. So bestätigt es jedenfalls Sergio Sartorelli in einem Brief an einen früheren Besitzer, der den Unterlagen des „Due Posti“ beiliegt. Mit nur 28.800 Kilometern auf dem Tacho ist das Coupé auch technisch nah am Originalzustand. Dreht man den Schlüssel, erwacht der Sechszylinder mit überraschend kernigem Röhren aus seinem Schönheitsschlaf. Fiat klingt eigentlich anders. Doch anscheinend hatte bei der Leistungssteigerung des Motors auch Aurelio Lampredi die Finger im Spiel, der in den 1950er Jahren als Ingenieur zahlreiche Motoren für die Renn- und Straßenmodelle von Ferrari konstruiert hatte. Das heisere Röcheln, das Ventilrasseln, die spontane Gasannahme hat der Fiat Ghia G230 S mit seinen Verwandten aus Maranello dann durchaus gemein.
Für einen 45 Jahre alten Prototypen mit Fiat-Technik lässt sich der Ghia äußerst leichtfüßig und flink durch den Großstadtverkehr dirigieren. Die Federung ist vergleichsweise komfortabel und nimmt Bodenwellen und Unebenheiten mühelos auf. Dank Bremskraftverstärker ist auch der Stop-and-Go-Modus kein Problem. Eine Tendenz zum Überhitzen konnten wir nicht feststellen, allerdings waren wir auch bei typischem Hamburger Novemberwetter unterwegs, das man aufgrund der mäßigen Leistung der Scheibenwischer und der chronisch beschlagenden Heckscheibe eher meiden sollte. Bei gutem Wetter ist der Fiat Ghia G230 S jedoch auch heute noch ein verlässliches und praktisches Alltagsauto, das an jeder Tankstelle mit Super betankt und dank der großen Ladeklappe sogar für extensive Shopping-Touren oder den Sporturlaub genutzt werden kann. Nicht schlecht, für einen Prototipo!
Die Fakten
Motor: | 2,3 Liter Reihensechszylinder (Leistungssteigerung von Abarth) |
Max. Leistung: | etwa 150 PS |
Kraftübertragung: | Viergang-Schaltgetriebe |
Aufbau: | Gitterrohrrahmen von Ing. Gilberto Colombo / Fa. Gilco |
Karosseriedesign: | Sergio Sartorelli |
Baujahr: | 1963 |
Farbe: | Lichtgrünmetallic |
Lederausstattung: | Dunkelbraun |
Fahrgestellnummer: | 114BS135700 (einziges noch existierendes Exemplar) |
Fotogalerie