Zu Beginn des Holywood-Spektakels “Vanilla Sky” fährt Tom Cruise in einem schwarz glänzenden Ferrari 250GTO durch die menschenleeren Häuserschluchten von New York City. Das herbstlich-bunte Laub des Central Park und die Glasfassaden der Bankgebäude spiegeln sich für einen Augenblick in der dunkel lackierten Silhouette des klassischen Rennwagens, ehe er mitten auf dem verlassenen Times Square zum stehen kommt, der Fahrer aus seinem Traum erwacht und der Zuschauer vor der Leinwand für immer weiss: Ein Ferrari muss nicht rot sein, sondern schwarz!
Entsprechend groß ist das Vergnügen, als ich vor der Hamburger Niederlassung des Luxus-Autohauses Tamsen meinen heutigen Testwagen erblicke: Zwischen gelben und orangefarbenen Lamborghini-Modellen ruht in anmutiger Spannung ein klavierlackschwarzer Ferrari - genauer gesagt ein Ferrari 612 Scaglietti, das brandneue Zwölfzylinder-Topmodell aus Maranello. Ich begrüße meinen neuen Freund mit einem geflüsterten „comme stai?“, öffne ohne eine Antwort abzuwarten die Fahrertür und lasse mich auf den ebenfalls schwarzen Leder-Sportsitz gleiten. Schon jetzt wird klar, dass dieser Ferrari nichts mit den spartanischen Italo-Flundern der 80er-Jahre gemein hat, deren Cockpit man nur mit Hilfestellung und Aerobic-Training besteigen konnte. Im Kopf gehe ich noch einmal das eindrucksvolle Datenblatt des Scaglietti durch: 5,7 Liter V12-Front-Mittelmotor, 540 PS, 589 Nm, 315 km/h Spitze, von 0 auf 100 in 4,2 Sekunden.
Also schnell den Schlüssel einstecken, drehen und sich freuen, wenn der Zwölfzylinder mit einem wohlerzogenen Brüllen auf Touren kommt. Mit der rechten Hand ziehe ich das silberne Schaltpaddel hinter dem Lenkrad leicht in meine Richtung, um den ersten Gang einzulegen, und trete mit Vorsicht das Gas. Auf dem Beschleunigungsstreifen der Hamburger Stadtautobahn habe ich kurzzeitig das Gefühl, einen Lear-Jet oder etwas ähnlich schubkräftiges zu starten – doch der Drehzahlmesser ist noch weit vom roten Bereich jenseits der 7.000/min entfernt. Ich schalte weiter hoch, bekomme ein freies Stück linke Spur vor die langgezogene Schnauze und lasse die Tachonadel über die 230 km/h-Marke schnellen, ohne die Beschleunigung ernsthaft wahrzunehmen. Trotz der dezenten Farbgebung scheint die Front des Ferrari 612 im Rückspiegel Eindruck zu schinden, räumen doch BMW, Mercedes und Porsche wie von Geisterhand gesteuert die Überholspur und somit die Strecke für einen weiteren Spurt bis Tempo 270, ehe ich herunterbremse und in Richtung Zentrum abfahren muss.
In Sichtweite der Außenalster muss ich schmerzlich erkennen, das ein Mittwochvormittag in der Hamburger Innenstadt nicht gerade die idealen Testbedingungen für einen 540 PS-Sportwagen bietet. Doch auch Ferrari brüstet sich mit der Alltagstauglichkeit der hauseigenen Automobile – so versuche ich, die endlosen roten Ampelperioden zu nutzen und das Interieur auf mich wirken zu lassen. Die Sitze sind bequem, klassisch geschnitten und mit schwarzem Leder bezogen. Im Vergleich zum Vorgänger, dem Ferrari 456 GT, hat sich die Gesamtlänge und auch der Radstand beachtlich vergrößert, was sich in einer gesteigerten Bewegungsfreiheit für den Fahrer und eine ernsthaft angedeutete Beinfreiheit im Fond bezahlt macht. Schließlich ist der Scaglietti ein echtes 2+2-Reisecoupé. Optisch angenehm ist die Kombination von schwarzem Leder und Aluminium – lässt sie den Ferrari 612 trotz komfortabler Polsterung, Dual-Klimatisierung und Bose-Audio-Beschallung recht minimalistisch und sportlich wirken. Langsam setzen sich die Autos um mich wieder in Bewegung und ich versuche, mich über Schleichwege in Richtung Speicherstadt und Hafencity zu tasten.
Am Seaport-Terminal habe ich Gelegenheit, den neuen Ferrari genauer zu begutachten. Der 612er wirkt trotz einer Gesamtlänge von fast fünf Metern glatter, geschmeidiger und weniger aggressiv als seine Vorgänger. Das Design-Team bei Pininfarina hat einen klassischen GT-Sportwagen geschaffen, der auch der nordischen Konkurrenz in punkto Understatement in nichts nachsteht, dabei aber mit seiner langgezogenen Schnauze, der gewellten Seitenlinie und den charakteristischen runden Heckleuchten ausgesprochen italienisch wirkt. Inspirieren ließen sich die Turiner Designer übrigens von den konkaven Formen und Flächen des legendären Ferrari 375 MM, der für Roberto Rossellini entwickelt - und letztlich von dessen Geliebter, Ingrid Bergmann, gefahren worden war. Über die Fernbedienung im Zündschlüssel öffne ich den Gepäckraum, der im Vergleich zum Vorgängermodell um 25 Prozent vergrößert wurde, um mit anderen Luxus-Sportcoupés wie beispielsweise dem geräumigen Bentley Continental GT konkurrieren zu können. Und tatsächlich scheint man mit dem Ferrari 612 Scaglietti auch für längere Reisen gut gerüstet zu sein – die angegebenen 240 Liter fassen wahlweise ein fünfteiliges Ferrari-Kofferset oder zwei Golfbags.
So geräumig der Kofferraum auch sein mag – mich interessiert der Fahrersitz. Doch leider drängt die Zeit und eine große Hochgeschwindigkeits-Testrunde über die wunderbar freien Autobahnen Norddeutschlands muss vertagt werden. Dafür muss sich die Federung auf dem kopfsteingepflasterten Weg durch die Speicherstadt auf die Probe stellen lassen. Sie zeigt sich sportlich abgestimmt und dennoch komfortabel genug, um selbst Langstrecken auf unebener Fahrbahn zurücklegen zu können. Nach einem kurzen Zwischenstopp vor dem traditionsreichen Hotel Atlantic, wo sich sogleich eine Traube fachkundiger Ferraristi um den schwarzen Sportwagen bildet, reihe ich mich wieder auf die Stadtautobahn in Richtung Stapelfeld ein, wo der Scaglietti bei Tamsen ein vorläufiges Zuhause gefunden hat, ehe er gegen eine Auslöse von rund 210.000 Euro seinem wahren Besitzer übergeben wird.
Der Preis für den Ferrari 612 ist hoch, aber gerecht. Wird man doch im High-Luxury-Segment kein zweites derart komfortables und hochmotorisiertes Gran Turismo Coupé finden. Für die technische Überlegenheit garantieren die Weltmeistertitel aus der Formel 1 und für die stilistische Grazie zeichnet kein geringeres Designbüro als Pininfarina verantwortlich. Die Tatsache, dass neben diesen Tugenden auch noch ein großzügiges Platzangebot und ein umfassendes Komfortpaket geboten wird, verbannt sämtliche Konkurrenten auf den Standstreifen. Wer sich nun noch für die dezenteste aller Lackierungsvarianten, nämlich ein edles Schwarz, entscheidet, beweist nicht nur einen exzellenten Geschmack sondern auch ein besonderes Gespür für den schnellsten Weg zum automobilen Glück.
Der Ferrari 612 Scaglietti steht im Hause Tamsen für eine Probefahrten zur Verfügung. Für weitere Informationen besuchen Sie www.tamsen.de.
Text & Fotos: Jan Baedeker
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