Italienisch für Fortgeschrittene
Text: Mathias Paulokat
Fotos: Darin Schnabel ©2011 Courtesy of RM Auctions
Berlinetta Boxer oder kurz BB: Nicht nur der Name ist delikat. Es handelt sich hier um einen veritablen 4,4-Liter Zwölfzylinder mit 40 Jahren Geschichte. Dennoch erreicht der Ferrari 365 GT/4 BB eine Spitzengeschwindigkeit von über 290 km/h. Wir fragen: Ist dieser Italiener das historische Pendant zum aktuellen Ferrari 458 Italia? Unser Report gibt Aufschluss.
Complicato! Das Chiffre „365 GT“ hat bei Ferrari eine besondere Bedeutung. Denn die Auflösungen fallen äußerst vielfältig aus. Es könnte sich beispielsweise um den legendären Daytona handeln, ein rares California Cabriolet aus den sechziger Jahren, genauso wie um den Limousinen-Ferrari GT4 2+2, der den Grundstein für die 412er Modelle legte. Erratum! Denn hier geht es um einen 365er, der die Urzelle einer ganz eigenen Linie markierte. Die der neuzeitlichen Ferrari mit typischer Karosserie: flacher Bug, geducktes Greenhouse, Mittelmotor, scharfkantiges Heck mit den markanten runden Rückleuchten. Ferrari, die noch nicht Vintage, aber schon gut gereift sind und jetzt große Klasse zeigen.
Der Ferrari 365 GT/4 Berlinetta Boxer legte für eben diese und weitere Ahnenlinien den Grundstein. Ohne ihn hätte es Erfolgsmodelle wie den ikonenhaften Ferrari 288 GTO und dessen poluläre Geschwister in Gestalt der ungemein erfolgreichen 308er und 328er Modelle vermutlich gar nicht gegeben. Wenigstens, was die typische Pininfarina-Form anbelangt. Denn bei den Motoren verfolgte Ferrari hier die Achtzylinder, während der 365 GT/4 BB auf einen echten und seinerzeit neuen Zwölfzylinder setzte. Ihm folgte unmittelbar der 512 BB. Und so gesehen ist auch der spätere Ferrari Testarossa eine Weiterentwicklung des Berlinetta Boxers. Was also steckt präzise hinter dem Chiffre 365 GT/4 BB?
Zahlen und Ziffernspiele
Der Code 365 GT/4 BB ist verwirrend und will sorgsam entschlüsselt werden. Dechiffrieren wir von hinten nach vorn. Die Buchstabenkombination BB steht für Berlinetta Boxer. Der Terminus „Boxer“ indes ist etwas irreführend, da es sich bei dem Motor nun gerade nicht um ein reinrassiges Boxer-Aggregat, sondern eher um einen V-Motor mit extremer Spreizung von 180 Grad der beiden Zylinderbänke handelt. Jeweils zwei Motorpleuel lagern auf nur einem Hubzapfen der Kurbelwelle, was die parallele Ausrichtung erklärt und eine kompakte Motorbauweise ermöglicht. Das Volumen des Motors liegt präzise bei 4.390 ccm. Mittels vier Dreifach-Fallstromvergaser von Weber erfolgt die Beschickung der zwölf Brennräume, was bei sauberen Zündfunken und über 7.000 Touren eine Leistung von rund 380 PS mobilisiert. Bei dieser Motor-Auslegung allerdings ist klar, dass es sich hier um eine Neuentwicklung handelt und eben nicht um eine Fortsetzung des bemerkenswerten V12 Colombo-Motors mit 60 Grad Anordnung, wie er beispielsweise noch im 250 GT Berlinetta SWB zum Einsatz kam.
Das andere „B“ steht für Berlinetta und ist schnell erklärt. So hießen bei Ferrari traditionell diejenigen Coupés, die ausschließlich zwei Sitzplätze besaßen. Die „4“ wiederum ist damit als Hinweis auf einen vermeintlichen 2+2-Sitzer klar widerlegt. Sie bezieht sich wiederum auf den Motor, da hier insgesamt vier oben liegende Nockenwellen wirken. Die Begriffsbezeichnung „GT“ bedarf kaum Erläuterung, ist landläufig als Gran Turismo bekannt. Bei Ferrari ist sie seit 1953 (Ferrari GT Europa) ein Indiz für Sportcoupés, welche zur zivilen Nutzung auf öffentlichen Straßen konzipiert sind.
Abschließend die „365“. Das ist wiederum delikater. Seit geraumer Zeit bezeichnet die dreistellige Ziffernfolge bei Ferrari eine Kombination aus Hubraum und Zylinderzahl. Beim aktuellen Ferrari 458 Italia beispielsweise meint die Zahlenfolge einen Gesamthubraum von 4,5 Liter und acht Zylinder. Anders beim 365 GT/4. Hier bezieht sich der Code auf das Fassungsvermögen eines einzelnen Zylinders. 365 mal 12 ergibt die besagten 4,4 Liter Hubraum. Die prestigeträchtigen zwölf Zylinder tauchen in der Typbezeichnung also überhaupt nicht auf. Das änderte sich mit dem direkten Nachfolger des 365. Der hieß nämlich 512 BB. Hier war klar: 5,0 Liter Hubraum und zwölf Zylinder gaben den Ton an.
Entstehung der Urform
In der Ahnenreihe der Zwölfzylinder-Ferrari löste der 365 GT/4 BB den beeindruckenden Daytona als Topmodell ab. Erstmals wies ein Serienmodell einen Mittelmotor auf – in jener Zeit ein absolutes Trendthema, welches Ferrari bereits auch im Motorsport realisiert und erprobt hatte. Dank enormer Schubkraft und leichter Karosse beschleunigte der GT/4 BB 1971 in rund 5,6 Sekunden von 0 auf 100 km/h. Die Höchstgeschwindigkeit wurde mit 291 km/h gemessen. Damit war er ein würdiger Nachfolger des Daytona, und Enzo Ferraris anfängliche Bedenken dürften sich nach Kenntnisnahme der Testprotokolle gelegt haben. Mit diesen Bestwerten ist der Berlinetta Boxer im übrigen auch dem progressiven 458 Italia ein angemessenes historisches Pendant, auch wenn dessen Mittelmotor seine Kraft nur aus acht Zylindern schöpft.
Ein voller Erfolg also, zumal es dem Hausschneider Pininfarina gelungen war, eine Formensprache zu finden, die mindestens genauso faszinierend ausfiel, wie die des Daytona. Die typische Keilform sollte über Jahrzehnte prägendes Stilmerkmal der Marke Ferrari sein. Wichtiger Bestandteil war beim BB die sogenannte „Pininfarina-Sicke“, die horizontal über das Türblatt an dessen stärkster Außenwölbung verläuft. Damit trennt sie den Wagen in einen oberen und unteren Teil, wobei sich die Linie praktisch auf Höhe der Stoßfänger einmal rund um den Wagen zeichnen lässt. Solch Linienspiel konnte kein Zufall sein. Ferrari unterstrich diese Ästhetik, indem man den gesamten unteren Teil des Fahrzeugs in schwarzer Farbe lackierte; ganz gleich, welche Farbe der Wagen oben trug. In unserem Fall ist es das klassische Rosso Corsa. Die Karosse des BB selbst wurde bei Scaglietti gefertigt.
Ein weiterer beabsichtigter Effekt dieses Farbkonzepts war, dass das Auto mit dem dunklen Asphalt scheinbar eins wurde. Auf der anderen Seite wirkte der Auftritt reichlich martialisch und lange nicht so feingeistig wie bei früheren Ferrari GT. Daher trug der Nachfolger 512 BB ab 1976 wieder eine einheitliche Farbgebung. Die bewusste Farbdifferenzierung macht den 365 bis heute zur auffallenden und seltenen Erscheinung. Insgesamt entstanden 378 Sportwagen dieses Typs. Unser Fotofahrzeug ist übrigens noch erhältlich. Es wird am 12. März 2011 von RM Auctions im Rahmen des Amelia Island Concours in Florida versteigert. Der Schätzpreis liegt zwischen 125.000 und 165.000 US-Dollar.
Unsere abschließende Empfehlung: Wenn Ihnen der 365GT/4 BB doch eine Nummer zu groß erscheint – man denke hier an die Wartungsintensität von klassischen Ferrari-Zwölfzylindern – bleibt der kleinere Ferrari 308 immer noch eine sehr gute und stilsichere Wahl, die auch aus wirtschaftlicher Sicht kalkulierbar ist. Tatsächlich ist der Einstieg in die Ferrari-Welt einfacher, als Sie denken und überhaupt nicht kompliziert. Nur Mut, hier geht es direkt zum Classic Driver Automarkt.
Datenblatt
Fahrzeugkonzept: Mittelmotorsportwagen
Design: Pininfarina
Karosserie: Stahlblech
Motor: wassergekühlter V12 mit 180 Grad, längs eingebaut
Hubraum: 4,4 Liter
Leistung: 380 PS
Drehmoment: 430 Newtonmeter
Kraftübertragung: Transaxle-Getriebe mit fünf Gängen, Hinterradantrieb
Radstand: 2.500 mm
V-Max: ca. 290 km/h
Stückzahlen: 387 Fahrzeuge
Fotogalerie