Der Architekt und die Stiere
Dass der schweizerisch-französische Architekt und Designer Charles-Édouard Jeanneret-Gris – besser bekannt als „Le Corbusier“ – sich für technische Funktionalitäten und gelungene Proportionen begeistern konnte, ist gemeinhin bekannt. „Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen, ein Sessel ist eine Maschine zum Sitzen,“ pflegte er schließlich zu sagen. Auch Automobile interessierten den Vordenker der Moderne: Bereits 1936 entwickelte er einen massentauglichen Kleinwagen nach den Regeln des Goldenen Schnitts, während er selbst einen luxuriösen Voisin C7 als Transportmittel bevorzugte. Doch wie hätten dem Mann mit der runden Brille und Fliege als Markenzeichen die Sportwagen von Lamborghini gefallen? Hätte er seinen Fachkollegen Marcello Gandini, der als Bertone-Designer die wichtigsten Modelle der Marke vom Miura bis hin zum Diablo entwarf, für seine ästhetisch radikalen wie funktionalen Entwürfe gelobt? Wäre der klaustrophobisch enge Innenraum eines Countach mit seinem Proportionsschema „Modulor“ vereinbar gewesen? Und wie hätte Le Corbusier als erklärter Feind jeden Ornaments die Lamborghini’schen Spoiler-Exzesse der 1980er- und 1990er-Jahre kommentiert?
Lektionen in Designgeschichte
Dass über derart theoretische Fragen der Ästhetik bei einem Automobiltreffen tatsächlich leidenschaftlich diskutiert wurde, ist eine der Leistungen des ersten Lamborghini Concorso d’Eleganza, der am vergangenen Wochenende im Schweizerischen Neuchâtel stattfand – und dem berühmten Architekten die Ehre erwies. Abgesehen von einem regelrechten Almauftrieb der Stiere auf den Spuren Le Corbusiers hinauf in seinen Geburtsort La Chaux-de-Fonds, wo mit dem Maison Blanc und der Villa Turque zwei seiner frühesten Bauten besichtigt werden konnten, standen am Concours-Wochenende allerdings die Feinheiten des Lamborghini-Designs im Vordergrund. Im Wettbewerb fanden sich schließlich rund 60 Modelle aus Sant’Agata Bolognese – vom wunderbaren Prototyp eines Lamborghini 350 GT von 1963 bis hin zu zeitgenössischen Supersport-Skulpturen wie dem Veneno Roadster. Und wo sonst hat man jemals zuvor die Möglichkeit gehabt, gleich 18 Miuras im Rudel über nasse Bergstraßen dröhnen zu sehen, die Designevolution des Countach an fünf Variationen des Kantenkeils zu verfolgen oder den Geländekoloss LM 002 gleich viermal in Formation zu bewundern? Es ist die Faszination eines solchen monothematischen Markenconcours, dass plötzlich auch kleine Details einen großen Unterschied machen – und man muss Lamborghini Polo Storico und den Teilnehmern dankbar sein, die diese unvergessliche Lektion in italienischer Designgeschichte mit ihren Sammlerstücken ermöglicht haben.
Almauftrieb der Superstiere
Die Jury um Markenkenner und Freunde der sportlichen Fortbewegung wie Alain de Cadenet, Corrado Lopresto, Hidemoto Kimura oder Olivier Namèche war entsprechend bemüht, die schönsten und bemerkenstwertesten Exemplare in jeder Klasse herauszustellen: Der Preis in der Klasse für Lamborghini Miura der ersten Generation P400 ging an ein froschgrünes Geschoss italienischer Provenienz aus dem Jahr 1967. Unter den Miura S erzielte ein wunderbares, frisch restauriertes Exemplar im einzigartigen Farbton „English Green“, das einst einem Pariser Juwelier gehörte, verdient den Klassensieg. Der spektakulärste Miura im Wettbewerb war jedoch ein grün-goldener SV von 1971, den sein japanischer Besitzer nach Neuchâtel eingeflogen hatte – und der sich nicht nur den Sieg in seiner Klasse, sondern auch den Titel „Best of Show“ freuen durfte. Unter den Lamborghini Espada, die 2018 ihren 50. Geburtstag feiern, überzeugte ein silberblaues Exemplar der zweiten Serie mit schokoladenbraunem Interieur die Spezialisten.
Miura, Miura, Miura
Etwas weniger zahlenstark vertreten waren derweil die Frontmotor-Sportwagen aus Sant’Agata, so dass Lamborghini 350GT, 400 GT und Jarama in einer Klasse gegeneinander antreten mussten. Einen Dekadensprung gab es auch bei den Achtzylinder-Stieren – gegen den eleganten grünen Urraco P250S von 1972 hatten die eigenwilligen Jalpas in der gleichen Wertungsklasse nur wenig Schnitt. Aus den Countach wählte die Jury derweil nicht den puristischen LP400 Periscopio oder den 25th Anniversario aus dem Vorbesitz von Lamborghini-Lichtgestalt Walter Wolf, sondern einen rechtsgelenkten QV, der auf Achse nach Neuchâtel gekommen war, zum Klassensieger. Aus der nächsten Superstier-Generation konnte sich ein Lamborghini Diablo Roadster VT von 1995 in zeitgenössischem Lilametallic durchsetzen und bei den modernen Sonderlingen siegte – mangels Konkurrenz – ein Veneno Roadster.
Durch alle Dekaden
Der eigentliche Star des Concours war allerdings ein absoluter Solitär: Nach Jahren der auswändigen Restaurierung und Rekonstruktion zeigte der Schweizer Ausnahmesammler Albert Spiess erstmals seinen mythischen Lamborghini Marzal. Das von Marcello Gandini entworfene Showcar war 1967 auf dem Genfer Salon zu sehen gewesen und hatte – nur drei Jahre nach der Markteinführung des barock-eleganten 350 GT – eine völlig neue und radikal futuristische Formensprache in Sant’Agata etabliert, die nicht nur den Espada inspirierte, sondern auch den Countach erst möglich machte. Von den silbernen Sitzen über die gläsernen Flügeltüren bis hin zu den wabenförmigen Armaturen absolut einzigartig, darf der Marzal zu den eindrucksvollsten Designskulpturen der Automobilgeschichte gezählt werden. Dass er von der Jury den Titel „Best of Best“ erhielt, war nur noch Makulatur.
Von einem anderen Stern
Schließlich beehrte übrigens auch Le Corbusier den Concours noch mit einem eigenen Automobil – zwar außer Konkurrenz und nicht im Zeichen des Stiers, dafür aber mithilfe eines anderen Großmeisters des Automobildesigns: 1987 hatte Giorgetto Giugiaro das „Voiture Minimum“ für eine Ausstellung im Centre Pompidou auf Basis der Originalpläne als Holzmodell realisiert. Beim Galadinner am Samstagabend überraschte das hölzerne, entfernt an einen VW Käfer erinnernde Gefährt dann die Gäste. Dass das bescheidene Gefährt die Countach- und Diablo-Besitzer jedoch nur wenig zu begeistern vermochte, dürfte ihnen der Großmeister der klaren Kante großmütig verziehen haben.