Eine Ecke im Paradies
Erzählt man einem Goodwood Neuling, dass es da ein Event in einer kleinen ländlichen Ecke von England gibt, wo man die schnellsten, lautesten und ausgefallensten historischen Rennwagen im hautengen Duell bestaunen kann, wird er wahrscheinlich nur ungläubig gucken. Vor allem, wenn man ihm auch noch verrät, dass am Steuer jene Lenkradakrobaten sitzen, welche die Klassiker auch schon zu ihren Glanzzeiten pilotierten. „Goodwood ist solch eine einmalige Erfolgsgeschichte“, schwärmt Jochen Mass in einer kurzen Pause zwischen seinen Pflichten auf der Piste und seiner Rolle als Darnleys House Captain. Zur Erklärung: Beim Goodwood Members Meeting werden alle Fahrer in vier „Häuser“ eingeteilt, für die sie im Lauf des Wochenendes Punkte sammeln. Sogar die Zuschauer können durch die Teilnahme an diversen Spielen am Rande der Strecke Zähler für ihr Lieblingshaus sammeln. Neben Jochen Mass waren in diesem Jahr auch noch Nicolas Minassian, Emanuele Pirro und Anthony Reid als „Mannschaftskapitäne“ aktiv. Mass: „Das alles basiert auf den Ideen und Träumen von Lord March, seinem untrüglichen Gefühl für Heritage und Familie, und in der Tat war es ja auch seine Familie, die nach dem Krieg diese fantastische Rennstrecke aus der Taufe hob.“
Das Band durchschneiden
Lord March (62) läutet seit drei Jahren die historische Motorsportsaison auf eine Weise ein, die in dieser Form schlicht nicht zu kopieren, geschweige denn zu übertreffen ist. Zwischen 1948 und 1966 hielt der 9. Duke of Richmond für Mitglieder des British Automobile Racing Clubs insgesamt 71 Clubtreffen in Goodwood ab; seit 2014 hat nun Charles Gordon-Lennox, Earl of March and Kinrara, diese Tradition neu aufgegriffen. Wodurch wir nun das 75. Jubiläum dieses inzwischen weltweit fest etablierten Spektakels erlebten. Trotz der seit 2014 rapide gewachsenen Bedeutung bleibt das in erster Linie für Mitglieder des Goodwood Road Racing Clubs zugängliche Meeting dem Grundgedanken und den Werten der ursprünglichen Treffen treu. Sprich: Die Gäste können so nah wie sonst nirgends an die Akteure heranzukommen, buchstäblich auf Tuchfühlung mit Motorsporthelden aus allen Epochen gehen. Und das alles in einer lockeren Atmosphäre und in einer Umgebung ohne Sicherheitsschleusen oder sonstige Zutrittsbeschränkungen.
Träum ich oder wach ich?
Gibt es einen anderen Platz auf diesem Planeten, wo man am selben Tag einen flammenspuckenden Fiat aus der Edwardian-Epoche und den dreimaligen Indy 500-Sieger Dario Franchitti am Steuer jenes Porsche 911 GT1 sehen kann, den sein Freund und Landsmann Allan McNish 1998 zum Sieg in Le Mans steuerte? Und das ist ja nur ein Beispiel. Da man eigentlich überall hingehen darf, kann es passieren, dass man beim Lunch in der Great Hall oder beim Kauf einer Zigarre auf der abendlichen Party plötzlich einem Derek Bell oder Richard Attwood gegenübersteht. So was gibt es eben nur bei Lord March....
Nervenkitzel und mehr
Natürlich sind es die Szenen auf der Rennstrecke, die den Zuschauern am tiefsten im Gedächtnis bleiben. Archie Scott-Brown hätte sich sicher gefreut, könnte er die stattliche Zahl an Listers sehen, die zum nach ihm benannten Rennen antraten. Regelrecht verzückt hätte ihn die Action, die sich dann entfaltete. Vor allem das Duell zwischen Sam Hancock im Prototyp-„Knobbly“ und Martin Stretton um Platz drei elektrisierte Fans an der Strecke und an den Bildschirmen. Den Preis für den schönsten Wagen des Wochenendes jedoch vergeben wir an Frederic Wakemans Lister Jaguar-Coupé mit Costin-Karoserie.
Hochkarätiges Spektakel
Kaum weniger aufregend das abendliche Rennen am Samstag um die Gerry Marshall Trophy. Ausgetragen mit Fahrzeugen, mit denen laut Streckensprecher „Ihr Dad zur Arbeit fuhr“. Nachdem eine Safety Car Phase das Rennen zu einem Supersprint bis zur Flagge machte, schnappten Chris Ward und Gordon Shedden im Rover SD1 von Patrick Motorsport dem Camaro von Vater und Sohn Bryant noch den Sieg vor der Nase weg. Dieses Rennen versprach eine Menge, und erfüllte denn auch alle Erwartungen. Was nicht verwundert, wenn unter den Piloten solche Größen wie Nicolas Misassian, David Coulthard, Tom Kristensen, Roberto Ravaglia und Gerhard Berger am Lenkrad sitzen.
Ruhe in Frieden, großer John
Es gab insgesamt wieder unglaublich viel in viel zu kurzer Zeit zu sehen: Ungezügelte Leviathane aus der Edwardian-Epoche, französische und italienische Monoposti der Vorkriegszeit und die kunterbunten Gruppe 1-Tourenwagen – alles gewürzt mit Hochgeschwindigkeitsdemo-Fahrten wie jenen für die Gruppe A-Tourenwagen. Dem kurz zuvor verstorbenen John Surtees – einer wahrlichen Goodwood-Legende – wurde mit einer Schweigeminute gedacht. Und mit einer Fahrt von Lord March höchstpersönlich im Can-Am-Lola von Il Grande John. „Ich bin sicher, John hat all diesen Krach gehört und uns dafür gedankt“, scherzte der gute Lord. Auch Mass sprach wohlwollend über seinen einstigen Teamchef: „John war ein phantastischer Charakter und ein sehr inspirierender Mensch. Wir waren nicht immer einer Meinung, aber wenn ich an ihn zurückdenke, kommen vor allem Erinnerungen an Formel 2-Testfahrten in einem seiner Autos hier in Goodwood zurück.“
David gegen Goliath
In einem wahren Kampf David gegen Goliath gelang es Mike Whittaker und Mike Jordan in der Graham Hill Trophy, sich mit ihrem winzigen TVR Griffith eine ganze Horde von AC Cobras vom Leib zu halten. In diesem Rennen mischten auch eine Reihe von Classic Driver Händlern mit, darunter Gregor Fisken, Max Girardo und James Cottingham. Letzterer landete auf einem eindrucksvollen vierten Platz, obwohl schon früh im Rennen der Schaltknüppel seines Ferrari 250 GTO abbrach. „Wie ein plötzlicher Regenschauer bringt dich sowas aus dem Rhythmus, speziell, wenn dir Rob Huff im Nacken sitzt“, rapportierte James. „Doch bald gewöhnt man sich dran. Ich hatte nur Sorge, dass der Schaltknauf im Fußraum herumrollen könnte. Am Ende verkeilt er sich noch unter dem Bremspedal....“ Eine besondere Erwähnung verdient auch der erst 17-Jährige Oliver Hart. In seinem Mustang verpasste er beim erstmals ausgetragenen Rennen um den Pierpoint Cup nur knapp den dritten Platz – sicher ein Talent, das man im Auge behalten sollte.
Das ist Charles…
Als wir am Samstagnachmittag so vor uns hin promenierten, erblickten wir eine Szene, die das ganze Event im Grunde zusammenfasst. Es war ein kleiner Junge, der mit zwei Modellautos spielte. Einer war ein Lamborghini Miura, der andere ein P1. Es ist wichtig dran zu erinnern, dass Veranstaltungen wie diese nicht für Menschen reserviert sind, die alles durch eine rosarote Brille sehen. Sie sollen vielmehr die nächsten Generationen inspirieren, und genau das schafft das Members’ Meeting so unglaublich gut. „Lord March gelingt es, all diesen Veranstaltungen ein ganz eigenes Gesicht zu geben, und dieses Meeting ist eine wunderbare Ergänzung“, fasst Jochen Mass zusammen. „Aber das ist halt Charles – er ist die treibende Kraft hinter allem, und alle lieben es.“
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2017