Die Kreativität kennt plötzlich keine Grenzen mehr, überall auf der Welt entstehen ästhetische und technische Zweirad-Meisterwerke.
Einst war die Custom-Motorrad-Szene eine kaum beachtete Nische, in der einige wenige Hardcore-Enthusiasten an ihren selbstgefertigten Motorrädern schraubten. Trotz aller Individualität gab es feste Regeln – eine Chopper musste eine lang gezogene Gabel und “Affenschaukel-Lenker” haben, ein Café Racer erhielt Clip-On-Lenker und eine kurze Sitzbank. Doch in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Szene deutlich verändert: Die Kreativität der Konstrukteure kennt plötzlich keine Grenzen mehr, überall auf der Welt entstehen ästhetische und technische Zweirad-Meisterwerke auf Basis serienmäßiger, oft etwas heruntergerockter Maschinen. Und das Schönste daran: Die neuen Custom Bikes werden nicht bloß bei Motorrad-Treffen bewundert, sondern täglich gefahren!
Blubbern und dröhnen in London, Paris und New York
So blubbern und dröhnen heute in Metropolen wie London, Paris oder New York plötzlich wieder die Bober, Chopper, Street Scrambler, Dirt Track Replicas und natürlich die Café Racer durch die Straßen. Letztere Gattung ist besonders beliebt bei hippen Stadtmenschen und Celebrities wie dem Motorrad-Abenteurer Charley Boorman oder dem Fernseh-Tänzer James Jordan. Doch während nur wenige Style-Biker sich selbst die Hände schmutzig machen, um ihren Traum vom eigenen Motorrad zu verwirklichen, investieren die meisten Menschen lieber in einen angesehenen Custom Builder.
Wo Nachfrage besteht, gibt es bald auch ein Angebot – und so findet man heute fast überall auf der Welt begabte Konstrukteure, die auf Basis einer Triumph Bonneville, Kawasaki W650, Harley-Davidson Sportster oder BMW ein radikales Einzelstück entstehen lassen können. Den Möglichkeiten sind dabei so gut wie keine Grenzen gesetzt. Nur was die Originalität der Maschine angeht, sollte man nicht gerade pingelig sein. Classic Driver hat bereits mehrfach über die atemberaubenden Moto Guzzi “Kaffeemaschinen” des Hamburger Custom-Bike-Builders Axel Budde berichtet – doch es gibt viele weitere Werkstätten, die wahre Motorrad-Schmuckstücke fertigen: Blitz, Wrenchmonkees, Deus Ex Machina, Rocket Supreme, Skuddesign, Revival Cycles und Ian Berrys gefeierte Falcon Motorcycles sind nur einige Namen.
Spezialanfertigung als neue Kunstform
Viele dieser subkulturell geprägten Workshops haben die Spezialanfertigung zu einer neuen Kunstform gemacht: Der Konstrukteur arbeitet nah mit dem Kunden zusammen, um dessen “Traummaschine” als ein fahrbares, praktisches, begehrenswertes und durch und durch exklusives Motorrad auf die Räder zu stellen. Oftmals entstammen die Entwickler nicht dem Mechaniker-Umfeld, sondern der Kreativszene: Nicholas Bech, der 2008 zusammen mit seinem Geschäftspartner Per Nielsen bei Kopenhagen die Firma “Wrenchmonkees” eröffnete, war ursprünglich Fotograf. Heute bekommt man bei ihm für 10.000 Euro und aufwärts eine ganz besondere Maschine. In sechs Jahren hat das Team bereits mehr als 60 Motorräder gebaut und verkauft.
“Die ganze Café-Racer-Szene begann zu boomen, weil einige Menschen wieder ein besonderes Motorrad besitzen wollten – aber eben keine klassische Chopper, keine konventielle Straßenmaschine und auch kein aggressives Renn-Motorrad”, sagt Nicholas Bech. “Wir haben seitdem für ganz verschiedene Auftraggeber gearbeitet und Motorräder gefertigt – von Studenten bis hin zu erfolgreichen Geschäftsleuten, Doktoren, Ärzten und Künstler war alles dabei. Viele hatten dabei noch nie zuvor ein Motorrad besessen, sich aber im Internet in das Bild eines eleganten Café Racers verliebt.”
Ein gewaltiger Boom
Tatsächlich boomt der Markt so gewaltig, dass selbst die großen Hersteller sich an die Custom-Konstrukteure in ihren urbanen Nischen wenden, um die eigenen Serienmodelle individualisieren zu lassen. Yamaha etwa ließ eine 35.000 Euro teure Version ihrer Straßenmaschine XJR1300 bei Wrenchmonkee fertigen und der legendäre kalifornische Motorrad-Revolutionär Roland Sands ließ zum 90. Geburtstag von BMW Motorrad die RSD BMW Concept 90 entstehen, die 2013 beim ehrwürdigen Concorso d’Eleganza Villa d’Este ihre Premiere feierte. “Die großen Firmen verstehen eben, dass die Café-Racer-Bewegung mit gewaltigem Schwung wächst – und nun möchten sie natürlich ihr Stück vom Kuchen abhaben”, erklärt Bech. “Ironischerweise kommt die Industrie deshalb nicht mehr ohne uns Untergrund-Konstrukteure aus.”
Photos by Sam Christmas, Joe Hitzelberger, Tuala, Keith Berrhotos, Goetz Goeppert, Noah Schutz and Kristina Fender. All photos taken from the new book 'The Ride - New Custom Motorcycles and Their Builders' by Chris Hunter and Robert Klanten, Ⓒ Gestalten Verlag 2014.