Jedes Jahr im September werden im südenglischen Goodwood die Uhren zurückgedreht. Zum Goodwood Revival verwandeln sich der Flugplatz und die Rennstrecke von Charles Gordon-Lennox Earl of March and Kinrara in einen Mikrokosmos, in dem vergangene Jahrzehnte wieder aufleben dürfen. Der Besuch des Revivals entführt einen in die glorreichen Zeiten der 30er, 40er, 50er und 60er Jahre.
Mit einer Kubrickschen Liebe zum Detail inszeniert das Team des Earls of March alljährlich das Retrofestival. Seinem Hang zum Perfektionismus konnte der Revival-Gastgeber schon in seinem Beruf als Fotograf ausleben. Unter dem Pseudonym Charles Settrington machte der junge britische Aristokrat mit seinen Stillleben-Fotografien von sich Reden. Doch nicht nur von offizieller Seite wird diese Detailverliebtheit erwartet, sondern auch von den rund 140.000 Gästen, die dementsprechend passend gekleidet zum Revival erscheinen.
Der Eingang zum Revival Meeting ist das Tor zu einer anderen Welt. Während auf der Rennstrecke klassische Rennwagen um eine der begehrten Revival Trophäen wetteifern und über dem Gelände Fliegerstaffeln mit ihren alten Propellermaschinen ihre Runden drehen, lädt eine britische Supermarktkette zum „History Shopping“ ein. In einem den 50er Jahren nachempfundenen Einkaufsladen werden aktuelle Produkte in ihrer historischen Verpackung angeboten – allerdings zu heutigen Preisen und bezahlt wird nicht Schilling oder Florin, sondern in Pence und Pfund Sterling. Und wem das Geld ausgeht, der hat die Möglichkeit sich mit frischen Noten aus einer der typischen roten Telefonzellen zu versorgen, denn in ihnen sind Geldautomaten verborgen.
Einmal in das Getümmel aus Petticoats, behüteten Herren in zweireihigen Anzügen und historischen Uniformen eingetaucht, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Eben passiert man ein Gypsi-Wagendorf, in dem über einem offenem Feuer ein Spießbraten dreht und zwei authentisch gekleidete Herren auf einer Mandoline Waisen aus fernen Ländern spielen. Gleich nebenan hat sich ein Rummelplatz im Stil der 30er Jahre niedergelassen. Schiffsschaukeln und Mäusezirkus sorgen für große Begeisterung, während eine Band Swing-Klassiker zum Besten gibt. In einem Käfig wartet eine vollbärtige Frau auf Schaulustige, die ein Foto mit ihr aufnehmen möchten. Alles wirkt sehr realistisch.
Bei all den außergewöhnlichen Szenen abseits der Rennstrecke darf nicht vergessen werden, dass der historische Motorsport das verbindende Element des Revivals ist. Wer sich für die glorreichen Tage des Motorsports begeistern kann, ist bei diesem Festival genau richtig: Bei keiner anderen Veranstaltung der Welt werden die alten Rennwagen so passend in Szene gesetzt wie in Goodwood: Die Mechaniker laufen in originalen Werkstatt-Overalls auf und tragen Schiebermützen oder Hüte. Wenn man die Crews in der Boxengasse mitfiebernd auf der Balustrade stehen sieht, fühlt man sich in die Zeit der Silberpfeile zurückversetzt, als diese auf der Avus oder in Le Mans um die großen Preise wettstritten. Ganz gleich, ob wertvoller Aston Martin, Ferrari oder Lotus Racer, die Gentlemen-Driver geben auf der Strecke Alles, ohne Rücksicht auf Verluste – und getreu der Maxime: „Motorsport ist eine gefährliche Sache, sorgen wir dafür, dass es so bleibt.“ Was während der Rennen passierte, kann in unserem ausführlichen Goodwood Renn-Report nachgelesen werden.
Etwas ungewöhnlich dürfte für einige Besucher der offensive Umgang mit den Wirren des Zweiten Weltkrieges sein, der beim Goodwood Revival ebenfalls eine große Rolle spielt. Auf dem Weg in Richtung des „The War Room“ genannten Restaurantzelts passiert man mehre Lager der Alliterierten samt Gewehren und herumlungernden Soldaten. Ein Schild vor einem dieser Camps warnt die Zivilisten ausdrücklich: Civlians are Forbidden to Loiter with Troups! – zu deutsch „Zivilisten ist es verboten mit den Truppen herumzuhänge!“ An dieses Verbot hielt sich allerdings kaum einer und die verkleideten Soldaten ließen sich bereitwillig mit den jungen Damen ablichten. In einer Gedenkminute am Sonntag wurde dann auch feierlich an alle Opfer des Krieges mit Salutschüssen gedacht.
Solche und viele weitere Erlebnisse zeigen deutlich, dass das Goodwood Revival viel mehr ist als eine Veranstaltung für klassische Rennwagen. Das Goodwood Revival ist die exakte Inszenierung längst vergangener Tage und die passende Kulisse für das „perfect picture“, wie es sich ein Fotograf nur wünschen kann.
Text: J. Philip Rathgen
Fotos: BKV /Michael Cole / John Colley / Jeff Bloxham / Marcus Dodridge / Matt Sills / Giles Babbidge all for Goodwood Revival Meeting 2010
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