Um sechs Uhr klingelt der Wecker. Zähneputzen, eiskalt duschen für den benötigten Kreislauf, dann los. Zwei Stunden später klebe ich irgendwo in den Kasseler Bergen auf einem ledernen Sportsitz, zu dem ich in den letzten zehn Tagen ein fast inniges, familiäres Verhältnis aufgebaut habe. Regen prasselt auf Scheiben und Verdeck, die Wischerblätter arbeiten auf Hochtouren, der digitale Tachometer zeigt 229 km/h. In den gelbumrandeten Rückspiegel schiebt sich die silbergraue Front eines Aston Martin. In freudiger Erwartung trete ich aufs Gas, doch beim nächsten Blick zurück ist der Herausforderer wieder verschwunden.
Minuten später bin ich völlig allein auf der Autobahn. Der Regen hat aufgehört, pechschwarze Wolkenfetzen ziehen über den hellgrauen Himmel, in den angrenzenden Wäldern hängen dichte Nebelschwaden. Dramatischer sah das bei „Herr der Ringe“ auch nicht aus, denke ich, bremse auf der rechten Spur herunter und öffne per Knopfdruck das Verdeck, um den dröhnenden Sechszylinder noch besser hören zu können. Weit und breit ist kein anderes Auto mehr in Sicht. Linkskurve, Gas geben, Rechtskurve, abbremsen, runterschalten, hoch, wieder herunter – für mehr als 15 Minuten halte ich die Ideallinie, beschleunige in rote Drehzahlbereiche und trete hart in die Bremsen, um an die Grenzen der Technik zu gelangen. Als ich weit vor mir das erste Heck eines LKWs erkenne, hat mein Körper bereits eine Jahrespackung Endorphin ausgeschüttet. Mit riesigen Pupillen und einem schmerzhaften Grinsen im Gesicht steige ich Stunden später in die Lufthansamaschine nach Hamburg und erwische mich, wie ich beim Start ein imaginatives Gaspedal durchtrete.
Zehn Tage zuvor. In Stuttgart-Zuffenhausen nehme ich den neuesten Testwagen in Empfang – ein Porsche 911 Carrera Cabriolet in, ähem, quietschgelb. Die ersten Fahrproben mit dem offenen Elfer haben wir bereits im März im meteorologisch günstigen Sevilla genommen, jetzt soll der Alltagstest unter Realbedingungen folgen. Das kleinere der beiden Cabrio-Modelle der neuen 911er Baureihe ist mit einem 325 PS starken 3,6-Liter Boxermotor ausgestattet; es beschleunigt in 5,2 Sekunden auf Tempo 100, erreicht eine offizielle Spitzengeschwindigkeit von 285 km/h, kostet rund 85.000 Euro und ist somit 10.000 Euro teurer als das entsprechende Coupé und 10.000 Euro günstiger als das Carrera S Cabriolet mit 355 PS. Das Verdeck beider Modelle, so sagt es der Pressetext, wurde für einen geringeren Luftwiderstand neu konzipiert und lässt sich während der Fahrt bis 50 km/h in nur 20 Sekunden öffnen und schließen. Doch der Mai zeigt sich unkooperativ und die Taste für das Stoffdach bleibt in den ersten Tagen in Süddeutschland so gut wie unberührt. Stattdessen kann ich bald den Rhythmus aller Scheibenwischerstufen im Schlaf mitklopfen.
Als der Regen doch irgendwann eine Pause einlegt, nutze ich die Gelegenheit für einen ersten „Offenfahr-Test“: Mit eingeklapptem Verdeck, Windschott und hochgefahrenen Seitenfenstern starte ich, gut vor Wind und Wetter geschützt, über nasse Serpentinenstraßen in den Schwarzwald. Schal und Mütze, die ich vorsichtshalber eingepackt habe, bleiben im Gepäckraum – denn selbst mit über 1,90 m Körpergröße bekommt man vom kalten Fahrtwind nichts mit. Auf den ersten steilen Streckenabschnitten beschleunigt der 911er souverän und kraftvoll, liegt dank Stabilitätsprogramm PSM stabil in den scharfen S-Kurven und bietet – wie erwartet – ausgezeichnete Verzögerung. Die Lenkung ist leichtgängig und trotzdem sportlich-direkt, die Sechsgangschaltung ebenso dynamisch ausgelegt und der Schaltknauf ergonomisch perfekt geformt und gelegen. Ebenso lobenswert sind die Sitze, die Seitenhalt und Komfort so optimal vereinen wie in kaum einem anderen Sportwagen.
Als nächsten Test-Parcours wähle ich die Autobahn Richtung Norden, wo man laut Wetterkarte mit sommerlicheren Temperaturen rechnen soll. Anfängliche Bedenken der „kleinen“ Motorisierung gegenüber zerschlagen sich, als ich auf einem freien Stück linke Spur die volle Beschleunigungskraft des Porsche auskoste und mich dröhnend von den Audi- und Mercedesgestraften Außendienstmitarbeitern im Rückspiegel verabschiede. Ob 250 km/h als Reisegeschwindigkeit bei offenem Dach oder Spitzentempo 300 mit geschlossenem Verdeck – der Carrera fährt wie auf Schienen und bügelt trotz straffer Dämpfer jede Bodenwelle glatt. Selbst die üblichen Nebenwirkungen eines Sportwagens im Limit – schweißnasse Hände und ein verkrampfter Nacken – bleiben aus. Und noch ein Pluspunkt: Hatte ich die Lackierung des Elfer-Cabrios Anfangs noch etwas abschätzig als „Post- und ADAC-Gelb“ abgetan, kann ich die Vorteile nun, da sich die linke Bahn vor mir bereits auf weite Entfernung respektvoll leert, nicht mehr von der Hand weisen.
In Hamburg erwartet mich das typisch hanseatische Wetter – Sonnenschein, wolkenloser Himmel, 33° Außentemperatur. Als ich den Porsche kurz auf dem Redaktionsparkplatz zurücklassen muss, spüre ich erstmals dieses unbestimmte kribbeln in der Magengegend und den Pulsschlag in den Schläfen. Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass mir der Carrera nachblickt, als ich in den Fahrstuhl steige. In den nächsten Tagen trenne ich mich nur noch vom Steuer, um hastig zu essen und unruhig zu schlafen. Während die Kollegen ihr Wochenende am Strand verbringen, drehe ich meine Runden entlang der Alster und Elbe. Und scheinbar bin ich nicht der einzige: Erstmals fallen mir die zahllosen Porschefahrer auf, die mit verklärtem Lächeln durch die Straßen der Hansestadt kreuzen, ihre Verdecks liebevoll öffnen und schließen und ihre Sechszylinder an den Ampeln aufbrummen lassen. Es sind Hunderte, vielleicht Tausende. Sie sind überall. Ich bin nicht allein.
Jetzt, wo „mein“ Porsche 911 Cabriolet wieder in Stuttgart steht und der Zündschlüssel nicht mehr auffordernd in meiner Hosentasche pocht, kann ich offen sprechen: Dieses Auto macht süchtig! Anders als die auffälligen Italo-Katapulte von Ferrari und Lamborghini setzt der offene Porsche 911 auf eine dezente und feine Designlinie; auf unterschwellige Überzeugungstaktik und Qualität statt Holzhammer-Methoden. Denkt man bei der ersten Fahrt mit dem 911 Cabrio noch „ganz nett“, ist man sich nach einer Woche hinter dem Steuer plötzlich sicher: „Das ist der perfekte Sportwagen.“ Mehr Druck, mehr Komfort, mehr Technik, mehr Design braucht man nicht.
Das einzige Problem mit einer handfesten Sucht ist, dass man auf Dauer die Dosierung anheben muss, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Aber Porsche wäre nicht Porsche, hätten Sie nicht auch für den Langzeitkonsumenten etwas im Angebot: Im Laufe der nächsten zwei Jahre kann man langsam vom Porsche 911 Carrera Cabrio über den offenen Carrera S, den Carrera 4S Cabrio, das Turbo Cabrio und bis zum Carrera GT in die höchsten Sphären automobiler Bewusstseinserweiterung fahren. Die Entzugsklinik, die einem im Anschluss noch helfen kann, muss allerdings erst erfunden werden.
Text: Jan Baedeker
Fotos: Jan Baedeker / Mario-Roman Lambrecht
ClassicInside - Der Classic Driver Newsletter
Jetzt kostenlos abonnieren!