Kurspeilung Umlaufbahn
Text & Fotos: Mathias Paulokat
Schlüsselszene: Ich nehme Platz im wohl schnellsten Salon seiner Zeit. Statt kommoder Ledersessel der „normalen“ Sechs-Dreier, zwängt mich eng geschnittenes Renngestühl hinter das Steuerrad. In den Händen halte ich ein mit Leder bespanntes Drei-Speichenlenkrad. Mit dickem Kranz und aus Gründen der Ergonomie verbogenem oberem Halbrund. Das Interieur zeigt sich ansonsten mit vollständigen Verkleidungen, tief glänzenden Holzeinlagen im kompletten Armaturenbrett – alles offenkundig seriennah, obschon die Instrumentenanordnung irritiert: gleich zwei Drehzahlmesser sitzen im Kombinstrument hinter dem Lenkrad und ein separater Tacho an der Mittelkonsole unterhalb der Lüftung.
Das schwarze Leder der Rückbank stammt sogar noch von der Erstausstattung. „Darunter stecken jedoch keine Federkerne, sondern Styroporauflagen. „Die elektrischen Fensterheber haben wir auch aus Gewichtsgründen ausgebaut“, erklärt Eigentümer Klaus Behrmann, „nur die Schalter sitzen noch in der Konsole.“ Auch das elektrische Schiebedach ist dauerhaft arretiert. Diese Sonderausstattungen wie auch das Becker Grand Prix Radio für 643,80 Mark belegen allerdings, dass dieses Fahrzeug einst eine zivile Bestimmung hatte. Für insgesamt 46.534,82 Mark wechselte der Benz bei Auslieferung den Eigentümer. Den Überrollkäfig hatte die feine Limousine da sicherlich noch nicht.
Auffallend sind auch die ausgestellten Kotflügel bei Behrmanns Boliden. Die hat sein damaliger Karosseriemeister im eigenen Betrieb von Hand angefertigt. In den Radhäusern kauern hochfeste und leichte Magnesium 10K15 vorne bzw. 12K15 Felgen hinten mit passender Dunlop-Racing Bereifung. Diese Reifen verschlissen zwar schnell, hielten aber die ungeheuren Belastungen aus. 1971 gewann Klaus Behrmann mit seiner „alten S-Klasse“ sieben von acht deutschen Rundstrecken- und Flugplatzrennen gegen Konkurrenten wie Alfa Werks GTA, Ford Capri, Mustang, Opel Commodore der Tuningschmiede Steinmetz und BMW CS-Coupés von Alpina und Schnitzer.
Donnerwetter zur Begrüßung
Ich greife zum Schlüsselbund, das in seiner olivgrünen biederen Ledertülle auch ein gepflegtes Reihenhäuschen im Norden Hamburgs öffnen könnte. Aber von wegen. Am Federstahlring hängt der mit schwarzem Kunststoff armierte Zündschlüssel. In Form und Materialien vollkommen unauffällig. Understatement wie es die Sechs-Dreier Flaggschiffe durch und durch verkörpern. Solche Schlüssel haben seinerzeit auch Einsteigermodelle wie den 250 S und brave Straßendiesel des Typs 200 D der Baureihe W114 zum Appell zitiert. Das macht dieser Schlüssel aber nicht. Er ist zu höchsten Weihen berufen.
Seine Befehlsgewalt gilt der schlagkräftigsten Hubraum-Eliteeinheit mit dem Kürzel V8. Ich schiebe den ausgezackten Metallstift in das verchromte Zündschloß. Eine leichte Umdrehung nach rechts. Stellung eins. Die Ladekontrolle in Form einer roten Lampe in der linken Uhr erglimmt. In die VDO-Rundinstrumente kommt Regung. Die Tanknadel springt aus der Reservestellung. Weiter: der mechanische Widerstand der Stellung zwei. Ich drehe den Zündschlüssel abermals ein Stück nach rechts und kitzele aus dem Batterieblock jene Stromstöße, die das Herz unter der Haube zum Schlagen bringen. Das Monster erwacht.
Sekundenbruchteile in Zeitlupe: Eilig fördert die Bosch-Achtstempelpumpe den hochoktanen Kraftstoff herbei. Die Saugrohreinspritzung sorgt für umgehende Gemischaufbereitung. Zündfunken springen über. 16 Ventile und zwei obenliegende Nockenwellen stürmen los. Die Duplex-Kette rauscht durch den Motorblock. Ein kurzes Schütteln der beiden Zylinderbänke. Der Öldruckzeiger klettert die Skala nach oben. Das Inferno bricht los. Apokalyptisch trompetet der ausgeräumte Doppelendenauspuff. Grausam. Brutal. Die Ohren schmerzen. Gewehrfeuergleich schießen die Abgase meterweit waagerecht über den Teer. Aberwitzig. Von welchem Stern ist dieses Schlachtschiff?
Klaus Behrmann behält die Nerven. Und erzählt: „Am 11. und 12. September 1971 starteten wir bei zwei sechs Stunden Rennen auf der Rennstrecke Paul Ricard bei Le Castellet – Seite an Seite mit AMG“, berichtet er. „Den ersten Lauf absolvierten wir als Vierter noch vor dem AMG-Team. Begeisterung. Doch im zweiten Lauf zerstörte ein Lagerschaden alle Träume.“ Auch der AMG fiel aus. Im kommenden Jahr änderten sich zudem erneut die Zulassungsbedingungen. Für Behrmann war damit endgültig Schluß. Er hing sein Hobby an den Nagel und stellte den Rennbenz in die heimische Garage. „Die Gesamtlaufleistung vom 6.9 liegt gerade einmal bei unter 10.000 Kilometern“, so der Hamburger.
Sieg der Gewalt
Heute aber will er raus auf die Strecke. Ich schiebe den Wahlhebel der Getriebeautomatik durch die Kulisse. Raste vier. Vorsichtig touchiere ich das Gaspedal mit meinem rechten Fuß. Und doch nicht behutsam genug: brüllend und abrupt springt der über fünf Meter lange Sternenkreuzer aus dem Stand nach vorne. Sofort zeigt die Uhr maximalen Öldruck an, die beiden Drehzahlmesser zucken nervös. Abfahrt jetzt. Und kein Halten mehr.
Der Automat nimmt in der ersten Fahrstufe bereitwillig das Drehmoment auf und schickt die Leistung an die Hinterachse. Die Stollenreifen packen zu und massieren den Asphalt. Nicht von ungefähr erinnert die Rad-Reifen Kombination in ihren Dimensionen an Formel Rennwagen früherer Epochen. Das modifizierte Fahrwerk ist erwartungsgemäß sehr stramm ausgelegt. Im Vergleich zum Serien Sech-Drei wankt der Karosserieaufbau auch bei schnellem Lastwechsel kaum. Die Federwege der beiden Achsen sind minimal. Und genauso ist der Grenzbereich ausgelegt. Doch der will erst einmal erreicht werden.
Die Antriebsräder durchdrehen lassen, das kann in dem kopflastigen Kreuzer jeder, aber die massive Kraft von 360 PS ohne jede elektronische Helfer kontrolliert in Vortrieb umzusetzen, das verlangt nach Feingefühl im rechten Fuß. Insbesondere in schnell gefahrenen Kurven. Nah am Limit. Ich überlasse Klaus Behrmann den Kommandostand. So wie vor 35 Jahren zirkelt er seinen 6.9 an der Innenseite der langen Kurve entlang, hält das Schlachtschiff unter Dampf und mit festem Griff auf Kurs. „Auf langen Geraden läuft der Wagen 280 km/h. Das sind immerhin 55 km/h mehr, als die Werksangabe für den Serien SEL“, erzählt Klaus Behrmann. „Die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h soll der 250 PS starke Wagen in nur 6,5 Sekunden absolviert haben. Nur zur Erinnerung: Wir haben hier 110 PS mehr an Bord.“ Sagt es und tritt das Gas beherzt durch. Das Gewitter schwillt an und der Stern donnert durch einen Kosmos aus Kurven, Geraden, Spitzkehren und Schikanen.
Die Legende der „roten Sau“
Zurück zur Geschichte der frühen S-Klasse im Renneinsatz - und damit auch zur Gründungsgeschichte von AMG. Den Durchbruch der Schmiede sicherte ausnahmsweise bereits ein früher zweiter Platz: 1968 beim 24-Stunden Rennen in Spa, mit Hans Heyer und Clemens Schickentanz am Steuer. AMG setzte den eigenen, rot lackierten Wagen daraufhin noch im März 1972 zum Vortraining und anschließendem 4-Stunden Rennen in Le Mans ein. Ein Zylinderkopfschaden markierte indes auch hier das vorläufige Ende der „roten Sau“, wie der AMG im Jargon genannt wurde.
Der französische Flugzeughersteller Matra Engines S.A. erwarb daraufhin das Auto, um es - stark umgebaut - für Testzwecke zum Erproben der Flugzeugfahrwerke von Concorde und Mirage einzusetzen. Der Rest ist Legende und eine andere Story. AMG hat mittlerweile zwar wieder eine „rote Sau“ vom alten Schlag im Stall. Doch handelt es sich hierbei um eine nachträglich aufgebaute Replika – im Gegensatz zu Behrmanns Original.
Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 (6.9) Tourenwagen – Teil 1
Als Super-Limousine schrieb Ende der sechziger Jahre der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 weltweit Schlagzeilen. Der Sechs-Drei symbolisierte den sprichwörtlichen Wolf im Schafspelz und fuhr selbst Sportwagen vom Schlage eines Porsche 911 S, Jaguar E-Type 4.2 und Maserati Mistral in Grund und Boden mehr...